Was auf prähistorischen Speiseplänen stand

Hervé Bocherens forscht über vegane Bären und kannibalische Menschen

Professor Hervé Bocherens sieht seine Arbeit als ein Puzzle. Und er weiß, dass sich viele Teile, die er heute in die Finger nimmt, über die Jahre stark verändert haben. Außerdem kennt er das Ausgangsbild des Puzz-les nicht. Für den Biogeologen kein Grund zu verzweifeln. Er forscht über Höhlenbären auf der Alb, Wisente in polnischen Wäldern und Mammuts in den nordspanischen Ebenen.

27.08.2016

Von Lorenzo Zimmer

Hervé Bocherens mit dem Schädel eines Smilodons. Die Säbelzahntigerart ist – wie die gesamte Spezies – vor etwa 10000 Jahren ausgestorben.Bild: Sommer

Hervé Bocherens mit dem Schädel eines Smilodons. Die Säbelzahntigerart ist – wie die gesamte Spezies – vor etwa 10000 Jahren ausgestorben.Bild: Sommer

Tübingen. Wenn Hervé Bocherens ein Ticket für eine Zeitmaschine mit Rückfahrkarte frei hätte, wäre seine Wahl klar: „Ich würde in die Mammutsteppe reisen“, sagt der Professor für Biogeologie. Das ausgesprochen vielfältige Habitat erstreckte sich vom Südwesten Europas, der iberischen Halbinsel, über Zentralasien bis an die Beringsee. Sie war aufgrund des niedrigeren Meeresspiegels damals vollständig verlandet. Damals? Das für die Eiszeit charakteristische Ökosystem existierte von vor etwa 460 000 Jahren bis 8000 vor Christus und zeichnete sich durch eine besonders artenreiche Tierwelt aus.

Doch dann, vor etwa 10000 Jahren, muss etwas passiert sein, das alles veränderte. „Wir versuchen rauszufinden, was das war“, sagt Bocherens. Er lehrt an der Tübinger Universität und forscht parallel für das an der Uni untergebrachte Senckenberg-Zentrum für menschliche Evolition und Paläo-Umweltforschung. Zwei Faktoren könnten aus seiner heutigen Sicht maßgeblich für den Umbruch in Flora und Fauna gewesen sein: „Waren es klimatische Veränderungen oder waren es die modernen Menschen?“

Wahrscheinlich beides – sagt Bocherens. Zunächst: „Das Aussterben von Arten ist nichts Ungewöhnliches“, so der Biogeologe. Und doch geschah am Ende der letzten Eiszeit vor knapp 10000 Jahren etwas Seltsames. Denn wenn Tiere wegen klimatischer Veränderungen aussterben, finden Teile ihrer Spezies Ausweichhabitate, also neue Lebensräume, und können ihre Art erhalten. Doch die Spur vieler Tiere verläuft sich am Ende der letzten Kaltzeit in Gänze: Bis dahin lebten Säbelzahntiger mit Wollhaarmammuts, Nashörnern, Höhlenbären und Höhlenlöwen im Herzen Europas. Das zeigen aufwändiger Kollagen-Untersuchungen mit modernsten Methoden.

Sehr wichtig für die Forschung des gebürtigen Franzosen und seiner Kollegen ist der Speiseplan der urzeitlichen Tiere. Denn er gibt Aufschluss über den Lebensraum, das pflanzliche Futter, die tierische Beute und die natürlichen Feinde einer Spezies. Dass viele Vertreter urzeitlicher Fauna vor 10 000 Jahren deshalb ausstarben, weil sie bei ihrer Nahrungssuche zu unflexibel waren, hält Bocherens für durchaus möglich. Wisente etwa – europäische Vertreter des heute noch in Amerika heimischen Bisons – bevölkerten ganz Europa, bis der Mensch vor etwa 6000 Jahren mit dem Ackerbau begann. Nahmen die menschlichen Vorfahren den Herdenbüffeln damit die Lebensgrundlage?

Ähnliche Fragen wirft Bocherens‘ Forschung auch für das Smilodon, einen Vertreter der Säbelzahnkatzen, und die Höhlenbären, die auch in großer Zahl auf der Schwäbischen Alb lebten, auf: „Die jüngsten gesicherten Funde solcher Höhlenbären sind 25000 Jahre alt“, so Bocherens. Danach hören die Funde schlagartig auf. Schätzungen zufolge waren die Tiere mit 300 bis 400 Kilogramm größer und schwerer als in Sibirien heimische Braunbären. Und: Sie waren vermutlich Veganer. „Ihre Zähne sind deutlich größer und breiter als die spitzen und scharfen Zähne von Fleischfressern“, sagt Bocherens. Eher Malm- als Schneidewerkzeuge also, ideal zum Zerstoßen von Fasern, Ästen und Pflanzengewebe. Aus Sicht der Forscher müssen die Bären ziemlich verfressen gewesen sein: „Pflanzen sind nicht so nährstoffreich wie Fleisch. Der Höhlenbär wird wahrscheinlich einen großen Teil seines Tages mit Fressen verbracht haben.“

Auch ihr Paarungsverhalten könnte ihnen zum Verhängnis geworden sein: „Heutige Braunbären bringen in zwei bis drei Jahren ein Junges durch“, weiß Bocherens. Er vermutet, dass es bei den Urzeitbären eher weniger waren: „Zu undynamisch“, beschreibt der Wissenschaftler das Liebesleben der Tiere, die der Bärenhöhle ihren Namen gaben. In den letzten 1000 Jahren ihrer Lebenszeit müssen sie sich einige Habitate mit den ersten modernen Menschen – oder den letzten Neandertalern – geteilt haben: „Knochenfunde, die Splitter von Speer oder Pfeilspitzen enthalten, legen das nahe“, so Bocherens. Das stetig verbesserte Kollagenverfahren soll jetzt auch auf ältere Funde und auf frische Funde aus Höhlen in Italien angewendet werden. An dieser Arbeit ist Bocherens maßgeblich beteiligt.

Das makabere Gegenteil von Veganismus hat der Biogeologe einigen der menschlichen Vorfahren nachgewiesen: „Wir haben menschliche Reste gefunden, die an ihren Knochen die gleichen Schnittspuren aufweisen wie Tiere, die man gegessen hat.“ Ob Menschen ihre Artgenossen gezielt töteten, um sie zu verspeisen, ob sie das Fleisch aßen, weil es nun mal da war, oder ob sogar spirituelle Riten dahinterstecken, vermag Bocherens nicht zu sagen.

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Erstellt:
27.08.2016, 01:30 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 27.08.2016, 01:30 Uhr

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