Schlechte Luft in Tübingen

Greenpeace maß hohe Stickoxid-Werte an sieben Stellen im Stadtgebiet

Der VW-Abgasskandal hat das Thema Stickoxid-Belastung wieder in den Fokus gerückt. In Tübingen maß Greenpeace am Dienstag an sieben Stationen die NO2-Konzentrationen – überall lagen sie deutlich über den erlaubten Grenzwerten. Die EU macht nun Druck, dass sich auch in der Region etwas tut.

16.03.2016

Von Volker Rekittke

Greenpeace-Verkehrsexperte Daniel Moser mit einer mobilen Stickstoffdioxid-Messstation beim Crona-Parkhaus am Schnarrenberg: Das Messgerät liegt im Fahrradanhänger, der Luftansaugschlauch ist am Radlenker befestigt. Bild: Rekittke

Greenpeace-Verkehrsexperte Daniel Moser mit einer mobilen Stickstoffdioxid-Messstation beim Crona-Parkhaus am Schnarrenberg: Das Messgerät liegt im Fahrradanhänger, der Luftansaugschlauch ist am Radlenker befestigt. Bild: Rekittke

Tübingen. „Stickstoffdioxid ist deutlich gefährlicher als lange gedacht“, sagt Greenpeace-Verkehrsexperte Daniel Moser. Tausende Erkrankungen und vorzeitige Todesfälle würden in Deutschland jedes Jahr durch zu hohe NO2-Emissionen in der Luft verursacht (siehe Kasten). Besonders gefährdet: Alte, Kranke, Kinder. Weshalb Moser die gerade am Schnarrenberg ermittelten NO2-Werte für besonders bedenklich hält. Die lagen, in unmittelbarer Nähe von Crona und Kinderklinik, morgens teils drastisch über dem EU-Grenzwert von 40 Mikrogramm (µg) pro Kubikmeter Luft – im Schnitt bei 60, in der Spitze bei 150 µg. Das sei „eindeutig zu hoch“, so der Hamburger Greenpeace-Mann. Dabei hält Moser schon den existierenden EU-Grenzwert für „einen politischen Wert“. Ginge es nach den Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO, würde der Wert auf 20 µg gesenkt und damit glatt halbiert.

Außer beim Crona-Parkhaus hat Greenpeace noch an sechs weiteren Stellen in Tübingen gemessen: auf der Neckarbrücke, der Alleenbrücke bei der Lindenbrunnen-Schule, auf dem Spielplatz im Alten Botanischen Garten, an der Kelternstraße, am Lustnauer Tor und am Westbahnhof.

Fazit: Im Durchschnitt lagen die NO2-Werte an allen sieben Mess-Punkten bei rund 70 Mikrogramm. Am höchsten waren sie am Lustnauer Tor. Moser: „Wir haben Maximalwerte von mehr als 400 Mikrogramm gemessen.“

Das ist nicht ohne Brisanz: Die EU-Kommission könnte wegen der jahrelangen Grenzwertüberschreitungen schon bald ein „Vertragsverletzungsverfahren“ gegen Deutschland nebst betroffenen Regionen und Kommunen wie Tübingen einleiten. Denn die Luftreinhaltepläne samt Umweltzonen zeigen kaum Wirkung. So steht es in einer Antwort der Bundesregierung an Brüssel, die unserer Zeitung vorliegt: Bis 2020 sei die Einhaltung des NO2-Grenzwerts nicht zu schaffen – auch nicht im Regierungsbezirk Tübingen. Dass die Werte nicht zurückgehen, bestätigt auf TAGBLATT-Nachfrage auch das Umweltbundesamt (UBA). Das veröffentlicht im Internet die Werte der offiziellen Messstationen. Die an der Tübinger Mühlstraße registriert seit Jahren zu hohe Emissionen.

Was tun? „Es fahren zu viele Autos in Tübingen rum, vor allem zu viele dreckige Diesel-Pkw“, sagt Moser. Die Autoindustrie überschreite die Grenzwerte seit Jahren – „und zwar massiv“. Die bestehenden Umweltzonen seien nicht wirksam. Greenpeace fordert deshalb neben deutlich mehr Radrouten und besseren ÖPNV-Angeboten eine „blaue Plakette“, eine Art Positivliste für wirklich saubere, unabhängig getestete Automodelle. Nur sie dürften dann noch in Städte wie Tübingen fahren, die unter hohen Schadstoffemissionen leiden.

Die Idee hält Tübingens grüner OB Boris Palmer für „unrealistisch und weltfremd“. Denn: „Dann würden 90 Prozent aller Autos aus Tübingen ausgesperrt.“ Palmer setzt stattdessen auf Jobtickets, mehr Radwege und das ansonsten freiwillige Vermeiden von Autofahrten. Beim NO2-Ausstoß sei Tübingen kein Einzelfall: „Das Problem ist überall da, wo viele Autos fahren.“

Stickstoffdioxid stammt vor allem aus Autoabgasen

Für mehr als 10 000 vorzeitige Todesfälle im Jahr ist Stickstoffdioxid (NO2) allein in Deutschland verantwortlich. Das geht aus einer Studie der Europäischen Umweltagentur (European Environment Agency, EEA) hervor. Laut Umweltbundesamt (UBA) kann NO2 Augenreizungen, Allergien und Atembeschwerden bis hin zu Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen auslösen oder verstärken.

Der EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid: 40 Mikrogramm (µg) pro Kubikmeter (m3) Luft im Jahresmittel. Die Jahresmittelwerte der Stickstoffdioxid-Belastung haben bis zum Ende der 1990er Jahre abgenommen, seitdem stagnieren sie. An weit mehr als der Hälfte der verkehrsnahen Stationen überschreiten die gemessenen Stickstoffdioxid-Konzentrationen den seit 2010 einzuhaltenden Grenzwert. „Stickstoffdioxid, das vor allem aus Kfz-Abgasen stammt, entwickelt sich zum Schadstoff Nummer eins“, so das UBA.

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Erstellt:
16.03.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 41sec
zuletzt aktualisiert: 16.03.2016, 01:00 Uhr

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