Übrigens

Geht beten statt hetzen!

In der Heimat wären sie an Hunger krepiert. Deshalb zogen im 19. Jahrhundert Millionen deutscher Wirtschaftsflüchtlinge nach Amerika, mit Sack und Pack voller deutscher Gepflogenheiten.

10.12.2016

Von Kathrin Löffler

Da waren sie nicht die einzigen. Massenhaftes Aufbrechen und Austauschprozesse schütteln die Weltbevölkerung seit jeher durcheinander. Menschen waren immer: mobil. Kulturen nie: von statischer Verlässlichkeit. Ließen sich nie: als veränderungsresistente Kontinuen in fix umgrenzte Ausschnitte der Erdoberfläche einbetonieren. Die Identitären hätten es aber gerne so. Sie sind eine neue, europaweit vernetzte rechtsextreme Jugendbewegung. Ihre Tübinger Vertreter sagen, etwas wie die gegenwärtige Immigrationskonjunktur in Deutschland habe es so noch nicht gegeben. Und dass die vielen Einwanderer wieder zurück sollen. Besonders die vielen Muslime. Die perfekte Welt der Identitären besteht aus eisern abgeriegelten Teilräumen, die Gesellschaften mit homogenen Weltanschauungen einschließen. Diese Reservatsvorstellungen, die Parolen nach einer uneinnehmbaren „Festung Europa“ und die Islam-Abneigung der Neurechten sind nicht Formen eines biologistisch auslesenden Rassismus. Es ist ein kulturell wertendes Herausfiltern der nicht Willkommenen – und fremdenfeindlich.

Solche oder ähnliche mediale Einordnungsversuche von Identitären existieren einige. Sie sind zutreffend. Sie sind aber auch: sehr einfach. Verkehrte Denkgebäude lassen sich rasch als solche markieren. Womöglich aber graben Berichterstattungen im zeigefingerjournalistischen Mahnerton über die Identitären – und über AfD-Wähler und Pegida-Teilnehmer – weiter an einer gesellschaftlichen Kluft zwischen den aufgebrachten Fremdenfeinden und jenen, die ihre Fremdenfeindlichkeit erklären.

Allerdings ist auch das Fremde: mitunter feindlich. Die Islamisten, die den Westen zum dschihadistischen Gottesstaat umfunktionieren wollen. Die sich aus Anwerbungszwecken in Asylsuchendenunterkünfte wanzen. Die die Bundeswehr unterlaufen, um eine Waffenausbildung abzugreifen. Die geflügeltes Wort gewordene Silvesternacht von Köln. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek meint: Genug der bourgeoisen Multikultiheiligkeit, genug der politisch korrekten Predigten. Oje? Nein. Denn darauf kommt er nicht infolge eines Durcheinanderpauschalisierens von Islamismus und Islam. Er lässt auch nicht das Gros friedlicher Muslime für die reaktionäre Koranauslegung terroristischer Monster haften. Žižek glaubt mehr an die Wirksamkeit eines Eintretens für europäische Werte als an die von dauerschleifigen Toleranzaufrufen. Denn mit europäischen Werten meint er das aufgeklärte Bewusstsein, dass das eigene religiöse, soziale oder alltägliche Selbstverständnis etwas Zufälliges, nichts besonders Positioniertes und zu Verabsolutierendes ist. Diese freiheitliche europäische Identität ist durchaus: eine Frage der Eigenverantwortung.

Islamischer Fundamentalismus und rechtsextremes Abschotten gefährden sie gleichermaßen. Es sind die beiden ebenbürtig ekligen Fratzengesichter eines ideologischen Ungeheuers, das die Menschheit in Gläubige und Ungläubige, in Mitspieler und Ausgesonderte zerlegen will. Hetze hält es am Leben. Wie jene auf den Transparenten und Flugblättern der Identitären, die generalisierend Furcht vor einer ganzen Glaubensrichtung schüren.

Identitäre könnten die Zeit für deren Herstellung so viel besser investieren. Sie sollen gerne Kirchen besuchen oder schwäbisch-alemannische Fasnetsumzüge, Volkslieder singen, was auch immer. Und jene christlich geprägten Traditionen lebendig halten, deren angebliche Verdrängung sie fürchten. Wegen türkischstämmiger Mitbürger, die ebenso angemessen traditionsorientiert in Tübingen zu Allah beten, bräuchten sie sich dann nicht zu grämen.

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Erstellt:
10.12.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 25sec
zuletzt aktualisiert: 10.12.2016, 01:00 Uhr

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