Kretschmanns Weltethos-Rede

Für ein Wir, das nicht ausgrenzt

Ministerpräsident Winfried Kretschmann plädierte in Tübingen für den Zusammenhalt in Zeiten vielfältiger Umbrüche.

18.02.2017

Von Gernot Stegert

Winfried Kretschmann

Winfried Kretschmann

Wie reagieren Menschen, auch Politiker auf Terror? Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagte gestern Abend in Tübingen: „Wir können Stimmung anheizen. Wir können sie beruhigen. Wir können hassen. Wir können verzeihen. Wir können spalten. Wir können zusammenhalten.“ Leidenschaftlich sprach er sich für das jeweils Zweite aus. Programmatisch überschrieb er die 12. Weltethos-Rede mit „Zusammenhalt in Zeiten des Umbruchs“. 900 Zuhörer im vollen Festsaal der Neuen Aula klatschten am Ende lange und laut. Wie nur zu Beginn einmal, als die Prorektorin der Universität, Prof. Monique Scheer, den Gründer der Stiftung Weltethos, Prof. Hans Küng, begrüßte.

„Zusammenhalt ist ein Kernbedürfnis menschlichen Lebens“, sagte Kretschmann und nannte als Beispiele Familie, Freunde, Vereine, Kirchen, Parteien. Doch dürfe das Wir nicht andere ausschließen, wie es Rechtspopulisten wollen. Der Zusammenhalt sei einer in Vielfalt. „Die menschliche Verschiedenheit macht das Menschsein überhaupt erst aus.“ Später, im Gespräch mit dem Weltethos-Präsidenten Eberhard Stilz sagte Kretschmann dann zur Überraschung vieler: „Die Menschen sind verschieden. Das ist ja das Schöne am Sex.“ Die Pluralität sei Aufgabe der Politik. Diese handle, zitierte der ehemalige Lehrer seine Lieblingsphilosophin Hannah Arendt, „von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“.

Kretschmann beschrieb zahlreiche Umbrüche, die den Zusammenhalt gefährden, und konkretisierte an ihnen seine Leitidee. Bei dem geopolitischen Umbruch der Bedrohungen der Demokratie etwa in Russland und in den USA müsse Europa zusammenhalten. Es sei trotz vieler Fehler „ein Raum der Freiheit und des Friedens.“ Deutlich rügte der Grünen-Politiker Übergriffe von Brüssel, die Verletzung des Prinzips der Subsidiarität. „Man muss nicht die Volksbanken schurigeln wie die Investmentbanken.“ Oder andere regionale Besonderheiten wegregulieren. Dadurch werde unnötig „Heimat und Behausung“ genommen.

Gegen den ökonomisch-sozialen Umbruch durch die Globalisierung und Digitalisierung mit der Angst vor Arbeitsplatzverlust müssten Politik und Wirtschaft, Gewerkschaften und Bürgergesellschaft gemeinsam handeln. Der Grünen-Politiker setzt einerseits auf „die soziale ökologische Marktwirtschaft“ und auf den Freihandel als „Geschäftsmodell von Baden-Württemberg“: „Die Welt ist eine verflochtene Fabrik. Deshalb wird Trump scheitern.“ Andererseits sei mehr soziale Gerechtigkeit nötig. „Wir müssen dem Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft wieder neue Kraft verleihen.“ Skandale wie Dieselgate bei VW erschütterten das System. Scharf kritisierte Kretschmann Millionen-Boni von Spitzenmanagern, die ihr Unternehmen an die Wand fahren, und Unternehmen, die keine Steuern zahlen.

Der Umbruch durch Flüchtlinge und Kriege erfordere ein globales Denken, einen weltweiten Zusammenhalt. Der Umbruch durch den islamistischen Terror müsse mit Freiheit beantwortet werden. Als kulturellen Umbruch bezeichnete Kretschmann die gesellschaftliche Modernisierung, die Gleichberechtigung der Frau, die Offenheit gegenüber sexueller Vielfalt, neuen Familienmodellen und gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen. Der Wandel verunsichere viele Menschen, die dann Rechtspopulisten folgten. Der Ministerpräsident will die, die nicht mitkommen, überzeugen – nicht ausgrenzen.

Kretschmann will „Brücken bauen“, niemand solle andere in eine Ecke stellen: „Wer den Zuzug von Ausländern begrenzen möchte, ist deshalb noch kein Nazi. Wer weiterhin Flüchtlinge aufnehmen will, kein Volksverräter.“ Toleranz sei wichtig. „Meinungsfreiheit hört nur da auf, wo sie zu Hass und Gewalt aufstachelt. Und wo die Abschaffung der Demokratie vorbereitet wird.“ Ob Angriffe auf Flüchtlinge oder Übergriffe von Flüchtlingen wie in Köln: „Beides geht gar nicht.“ Bürger und Politiker müssten dem Anstand und Haltung entgegensetzen.

Mehrfach zitierte Kretschmann den Aufklärer Immanuel Kant: „Selber denken, den anderen denken, schlüssig denken.“ Und hatte am Schluss ein überraschendes Beispiel dafür: die Diäten-Erhöhung des Landtags. Die Abgeordneten hätten alle drei Prinzipien verletzt, tadelte der Ministerpräsident. Sie hätten sich an anderen Bundesländern orientiert, nicht an die Reaktion der Bürger gedacht und sich nicht schlüssig verhalten.

In der ersten Reihe im Festsaal der Neuen Aula (von rechts): Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Weltethos-Stiftungspräsident Eberhard Stilz, Ehrenpräsident Hans Küng, Karl-Josef Kuschel, Alt-Ministerpräsident Erwin Teufel und Karl Schlecht.Bilder: Franke

In der ersten Reihe im Festsaal der Neuen Aula (von rechts): Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Weltethos-Stiftungspräsident Eberhard Stilz, Ehrenpräsident Hans Küng, Karl-Josef Kuschel, Alt-Ministerpräsident Erwin Teufel und Karl Schlecht.Bilder: Franke

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Erstellt:
18.02.2017, 00:01 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 49sec
zuletzt aktualisiert: 18.02.2017, 00:01 Uhr

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