Küstenwache bedroht Lebensretter

Friedhold Ulonska bekam es am Dienstag als Kapitän der „Lifeline“ mit den Libyern zu tun

Der ehemalige TAGBLATT-Redakteur Friedhold Ulonska ist Kapitän der „Lifeline“. Derzeit ist er wieder mit seinem Schiff im Mittelmeer und rettet Flüchtlinge aus Seenot. Am Dienstag bekam es die Crew mit den Libyern zu tun.

29.09.2017

Von Friedhold Ulonska

Das Boot der libyschen Küstenwache dreht auf die „Lifeline“ zu, um sie zu entern. Bild: Ulonska

Das Boot der libyschen Küstenwache dreht auf die „Lifeline“ zu, um sie zu entern. Bild: Ulonska

Nach unserer Ankunft im Suchgebiet bezogen wir Position im Seegebiet westlich der libyschen Hauptstadt Tripolis. Hier wurden bisher die meisten Flüchtlingsboote gefunden. Nach meinem Einsatz Ende Juli – damals haben wir mit der „Sea Eye“ an der Rettung von mehr als 1000 Menschen mitgewirkt – ist die Zahl stark zurückgegangen. Grund dafür ist die Abschottungspolitik Europas, wobei vor allem die italienischen Behörden zu brutalen Mitteln greifen. So wurden libysche Milizen bestochen – von 5 Millionen Euro ist die Rede –, um Flüchtlinge, statt sie auf das Mittelmeer zu schicken, an Land abzufangen und in Lager zu stecken, in denen nach Ansicht des deutschen Außenministeriums KZ-ähnliche Zustände herrschen.

Die sogenannte libysche Küstenwache, die ebenfalls von Italien und der EU mit Schiffen und Waffen ausgestattet und für ihre Mission angeleitet wurde, versucht die Boote, die es trotzdem schaffen, auf See abzufangen und nach Libyen zurückzuschicken. Dass sie dabei auch mit den Schleppern kooperiert, ist belegt. In den vergangenen Wochen hat die Zahl der Flüchtlingsboote jedoch wieder zugenommen. Ein Grund dafür soll nach libyschen Berichten sein, dass die Millionen aus Italien „aufgebraucht“ seien.

In den ersten Tagen vor Ort entdeckten wir keine Flüchtlingsboote. Zusammen mit der „Aquarius“, einem großen Rettungsschiff der Organisation „SOS Mediterrane“, fuhren wir Patrouille in rund 26 Seemeilen Abstand zur Küste. Damit sind wir außerhalb der libyschen Territorialgewässer (12 Seemeilen Abstand zur Küste) und der Anschlusszone (24 Seemeilen). Letztere sind internationale Gewässer, in denen Libyen allerdings noch bestimmte, eng begrenzte Kontrollrechte hat. Wir nutzten die Zeit für seemännische Trainings, vor allem für den Umgang mit unserem schnellen Beiboot „Sara“.

Völlig überfüllte Boote

Die „Aquarius“ fand am Montag, 25. September, ein Boot mit 30 Menschen, darunter drei medizinische Notfälle. Damit wurde das Schiff vom MRCC direkt nach Italien zurückbeordert. Wir, die „Lifeline“, waren damit das einzige Schiff im westlichen Seegebiet – das entspricht einer Strecke von ungefähr 100 Kilometern.

Am Dienstag sichteten wir ein Holzboot mit Flüchtlingen, etwa 22 Seemeilen von der Küste entfernt. Am Ende sollten wir 69 Menschen aus Marokko, Ägypten und Bangladesch daraus retten, darunter eine Frau mit einem kleinen Mädchen.

Nach Abstimmung mit dem MRCC fuhr „Sara“, unser Beiboot, zu dem Holzboot. Unsere Helfer beruhigten die Menschen und verteilten Schwimmwesten. Die Stimmung auf dem Boot war gut, es gab keine Notfälle. Wir nahmen alle Menschen an Bord, da das MRCC inzwischen auch ein Schlauchboot mit Flüchtenden gemeldet hatte. Danach setzten wir das Holzboot in Brand, damit es nicht mehr für den Menschenschmuggel verwendet werden kann und die Schifffahrt nicht behindert.

Die „Lifeline“ kann zwar bis zu 150 Menschen für einige Stunden an Bord nehmen, sie jedoch nicht über längere Strecken transportieren. Dafür ist das Schiff zu klein und unzureichend ausgerüstet. Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass größere Schiffe die Menschen übernehmen.

An der ungefähren Position des gemeldeten Schlauchboots hatten wir ein Radarecho. Wir schickten „Sara“ los mit der Bitte, unterwegs ein weiteres Echo zu klären. Dieses entpuppte sich als ein weiteres Holzboot mit etwa 60 Menschen an Bord. Unsere Helfer versorgten die Leute mit Schwimmwesten. Wenig später fand „Sara“ das Schlauchboot. Es war so überfüllt, dass es nicht möglich war, Schwimmwesten zu verteilen: Dafür war schlicht kein Platz mehr.

Wir holten die Flüchtenden aus dem Holzboot. Währenddessen näherte sich – auf dem Radar gut zu erkennen – von Süden ein schnelles Boot. Bald war es zu erkennen: Es war eines der Boote, die Italien der libyschen Küstenwache geschenkt hat, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten.

Küstenwache entert „Lifeline“

Auf Anrufe der international vorgeschriebenen Kanäle reagierte das Küstenwachboot nicht. Es stoppte an unserer Steuerbord-Seite, an der noch das leere Holzboot lag: Gerade noch rechtzeitig konnten wir alle Menschen an Bord nehmen. Die Männer auf dem Küstenwachboot schrien „Go away“ und fuchtelten mit den Armen. Einer von ihnen ging zum Maschinengewehr auf dem Achterdeck. Ich zeigte immer wieder ein Funkgerät und rief den Männern zu. Keine Reaktion. Wir lösten das Holzboot von der „Lifeline“, das nunmehr langsam zurücktrieb.

Auf einmal näherte sich das Küstenwachboot von hinten. Ein Mann am Bug versuchte, eine Leine an unserem Schiff zu befestigen. Wir verweigerten das. Ein anderer Mann sprang an Bord. Das ist in internationalen Gewässern, in denen wir uns befanden, widerrechtlich – juristisch gesehen ist ein solches Entern Piraterie.

Erneut näherte sich das Boot von hinten. Es wurden Warnschüsse in die Luft abgefeuert. Ein weiterer Mann sprang auf die „Lifeline“, befestigte eine Leine. Unser erster Offizier machte sie wieder los. Auf dem Achterdeck diskutierte unser Head of Mission mit dem Offizier. Sie verlangten von uns, das Seegebiet sofort zu verlassen – Libyen ignoriert die internationalen Regeln und erklärt Seegebiete nach Lust und Laune zu eigenen Gewässern. Vorher sollten wir noch die Flüchtlinge herausgeben.

Das lehnten wir natürlich ab. Jeder Mensch hat das Recht zur Flucht – das ist etwas anderes als die Frage, ob jeder in Europa bleiben kann. Niemand darf nach der Genfer Flüchtlingskonvention in ein Land zurückgebracht werden, aus dem er geflohen ist. Niemand, der schiffbrüchig auf See gefunden wird, darf in einen Hafen gebracht werden, in dem ihm Hunger oder Verfolgung droht – egal aus welchem Grund.

An Bord herrschte Todesangst pur

Nach hitzigem Wortwechsel ließen sich die unbewaffneten Libyer von unserem Boot abholen. Das Küstenwachboot setzte das Holzboot in Brand und fuhr zurück.

Ich war während dieser Ereignisse auf der Brücke und navigierte die „Lifeline“. Als die Libyer auftauchten, brach unter unseren Gästen Panik aus. Sie verkrochen sich in die Ecken. Wer das nicht konnte, rückte eng zusammen. Durch die Fenster des Steuerhauses starrten mich Augen an, weit aufgerissen, Todesangst pur. Es mag wie eine Floskel klingen – aber diese Blicke werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen. Sie sind Symbol dafür, was diese Menschen in Libyen erlebt haben. Zwangsarbeit, Vergewaltigungen, Schläge, Folter und demonstrative Erschießungen sind dort Alltag, jeden Tag, jede Nacht. Die Wunden, die Narben, die diese Zeit körperlich bei den Überlebenden hinterlässt, sahen wir auch an diesem Tag vielfach. Aber das sind die Zustände, in denen die europäischen Politiker – auch die deutschen – diese Menschen gern zurücklassen möchten: Weit genug entfernt sieht’s ja keiner…

In einem weiten Bogen fuhren wir zu „Sara“ und dem Schlauchboot. Dort war die Situation bedrohlich, zumal wir während des Überfalls keinen Funkkontakt gehabt hatten – man weiß ja nie, wer mithört. Das Schlauchboot verlor Luft und begann zu sinken. Wir fingen sofort damit an, die Menschen an Bord zu nehmen. Etwa 80 von ihnen mussten wir auf dem Boot lassen, nachdem die „Lifeline“ mit mehr als 200 Menschen an Bord schon völlig überfüllt war. Wir passten natürlich gut auf sie auf.

Aufhören kommt nicht infrage

Am Horizont tauchte nun die „Asso Venticinque“ auf, ein italienisches Versorgungsschiff, das vom MRCC geschickt worden war, um die Flüchtlinge aufzunehmen und nach Italien zu bringen.

Es war dunkel, als die „Asso Venticinque“ und wir nach dem Transfer gen Norden fuhren. Auf rund 30 Seemeilen Distanz zur Küste verbrachten wir die Nacht. Am nächsten Tag hieß es: aufräumen und weiter suchen. Und viele Gespräche führen – auf Deutsch, Spanisch und Englisch, unserer Bordsprache. Dieser Tag hat allen vor Augen geführt, um was es bei unserer Mission geht: Menschen, die vor unfassbarem Leid und Elend fliehen, das ihnen in Libyen zugefügt wird, vor dem Ertrinken auf dem Meer zu retten. Wer das nicht gesehen hat, kann es vielleicht nicht verstehen. Wer es gesehen hat, kann nicht anders, als weiterzumachen.

„Sara“, das schnelle Beiboot der „Lifeline“, hat Menschen aus dem Flüchtlingsboot geholt und bringt sie zum Mutterschiff. Bild: Ulonska

„Sara“, das schnelle Beiboot der „Lifeline“, hat Menschen aus dem Flüchtlingsboot geholt und bringt sie zum Mutterschiff. Bild: Ulonska

Eine internationale Crew im Rettungseinsatz

Die „Lifeline“ ist die ehemalige „Sea Watch 2“, mit der der frühere TAGBLATT-Redakteur und jetzige Rottenburger Unternehmensberater Friedhold Ulonska im August 2016 im Mittelmeer unterwegs war. Das Boot ist 33,50 Meter lang und 8 Meter breit. Die „Lifeline“ gehört nun dem Dresdner Verein Mission-lifeline, der das Boot gemeinsam mit der spanischen Organisation Maydayterraneo betreibt. Die 19-köpfige Crew ist international: Vor allem Deutsche und Spanier sind an Bord, außerdem eine bereits 70-jährige italienische Krankenschwester. Ulonska ist der Kapitän des Schiffs und zusammen mit dem spanischen Ersten Offizier und dem deutschen Head of Mission für den Einsatz verantwortlich. Die „Lifeline“ hat Valletta auf Malta am 21. September, verlassen. Die Rückkehr ist für Samstag, 30. September, geplant. Ulonska wird anschließend erneut mit dem Schiff für zwei Wochen zur nächsten Mission auslaufen. Die Rettungseinsätze werden nach internationalem Recht durch das Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) in Rom, ein offizielles Rettungszentrum, koordiniert.

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Erstellt:
29.09.2017, 01:01 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 28sec
zuletzt aktualisiert: 29.09.2017, 01:01 Uhr

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