Die Französischen Filmtage erkunden den Islamismus

Freudig erregt vom Massenmord

Warum werden westliche Teenager zu Dschihadisten? Und wie ticken eigentlich die Hintermänner des Terrors? Zwei Filme bei den Französischen Filmtagen suchen Antworten.

08.11.2016

Von Klaus-Peter Eichele

Sonia (Naomi Amarger) ist bereit für den Dschihad in „Le ciel attendra“ von Marie-Castille Mention-Schaar. Bild: Verleih

Sonia (Naomi Amarger) ist bereit für den Dschihad in „Le ciel attendra“ von Marie-Castille Mention-Schaar. Bild: Verleih

Die Serie islamistischer Anschläge in Frankreich motiviert auch das Kino zur Ursachenforschung. Was sind das eigentlich für Leute, die ohne jeden Skrupel Unschuldige niedermetzeln? Welche Ideologie steckt dahinter? Wie gelingt es den Drahtziehern, immer neue Attentäter zu rekrutieren? Und natürlich: Was kann man dagegen unternehmen? Zwei Filme bei den Französischen Filmtagen nähern sich solchen Fragen auf ganz unterschiedliche Art.

Mitten in der Nacht stürmen schwer bewaffnete Polizisten das Haus einer französischen Durchschnittsfamilie. Ihre 17-jährige Tochter, erfahren die geschockten Bewohner, sei eine Dschihadistin und habe kurz davor gestanden, einen Terroranschlag zu verüben.

So spektakulär der Spielfilm „Le ciel attendra“ (Der Himmel wird warten) beginnt, so behutsam spinnt Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar („Die Schüler der Madame Anne“) die Geschichte fort. Auf dem Fundament intensiver Recherchen verknäuelt sie die fiktiven Biografien zweier französischer Schülerinnen, die der Verführungskraft des Islamismus erliegen – sowie die ihrer Eltern, die fassungslos vor dieser Radikalisierung stehen, von der sie nichts mitbekommen haben.

Mélanie (Naomi Amarger) ist ein braves Mädchen aus bürgerlichem Haus, das Cello spielt und sich für Gerechtigkeit engagiert. Während einer persönlichen Krise kommt sie in Kontakt mit einem Anonymus im Internet, der mit einfühlsamer Chat-Kommunikation ihr Vertrauen gewinnt und sie sodann einer perfekt auf ihr Leiden an der Welt zugeschnittenen Gehirnwäsche unterzieht. Am Ende ist Mélanie bereit, nach Syrien in den Dschihad zu ziehen. Wobei Ende nicht das Ende des Films meint, denn Mention-Schaar erzählt in zerrütteter Chronologie – was das Durcheinander im Innern der Figuren trefflich akzentuiert.

Bei Sonia (Noémie Merlant), der Tochter liberaler französischer Muslime, bleibt die Ursache ihrer Radikalisierung im Vagen. In ihrem Fall geht es um die Frage, ob und wie das im in einem religiösen Wahnsystem gefangene Mädchen zur Menschlichkeit zurückfindet. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine Sozialarbeiterin, die betroffenen Eltern zur Seite steht und versucht, die Verhärtung der Jugendlichen aufzubrechen. Bei alldem vermeidet der Film simple Erklärungsmuster und vorgestanzte Antworten. Seine Stärke liegt darin, dass die Regisseurin erst einmal geduldig beobachtet, was überhaupt vorgeht, und sich dann behutsam daranmacht, die richtigen Fragen zu formulieren.

Könnte man die beiden Mädchen bis zu einem gewissen Grad auch als Opfer sehen, so gilt das für die Protagonisten von „Salafistes“ definitiv nicht. In dem Dokumentarfilm des Franzosen François Margolin und des mauretanischen Journalisten Lemine Ould Salem treten erwachsene Männer auf, die Mord und Massenmord, etwa an den Journalisten von Charlie Hebdo, in freudige Erregung versetzt.

Das Material haben die Filmemacher in Afrika und dem Nahen Osten gesammelt, vor allem im Norden Malis, wo Al-Kaida-Kader 2012 ein Terrorregime errichtet haben. Der Film besteht zum großen Teil aus kommentarlos verabreichten Interviews mit islamistischen Chef-Ideologen, die das Töten und Verstümmeln von Menschen gutheißen („Homosexuelle sind eher Tiere als Menschen“) und ausführlich das der Barbarei zugrundeliegende Islamverständnis darlegen. Dazwischen geschnitten sind Ausschnitte aus Propagandavideos: schwer zu ertragende Bilder von Steinigungen, Amputationen Auspeitschungen, Hinrichtungen.

Die Distanzlosigkeit, mit der der Film all dies schildert, hat in Frankreich einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die Regierung verhängte ein Verbot für Jugendliche, wohl in der Furcht, „Salafistes“ könnte sich unfreiwillig zum Rekrutierungsvideo entwickeln. Die Regisseure halten dagegen: „Wir haben diesen Film gedreht, weil wir nicht genug über die Menschen wissen, die uns den Krieg erklärt haben.“ Auch die moralische Instanz Claude Lanzmann („Shoah“) hat „Salafistes“ vehement verteidigt.

Die Debatte, ob man das Böse ungefiltert zu Wort kommen lassen soll, ist nicht neu. In Deutschland wurde sie in den 1990-er Jahren geführt, als die ähnlich operierende Doku „Beruf Neonazi“ in die Kinos kam. Soll man der kritischen Urteilskraft des Publikums vertrauen? Oder vor der Verführungskraft des Bösen in Angst erstarren? Sicher ist: Um sich von „Salafistes“ zum Dschihadisten bekehren zu lassen, müsste man in seiner moralischen Deformation schon sehr weit fortgeschritten sein. In der Schlussphase des Films wird jedes Argument, mit dem die islamistischen Kader das Töten rechtfertigen (etwa der Verweis auf den amerikanischen Imperialismus), ad absurdum geführt. Selbst den beiden Mädchen aus „Le ciel attendra“ sollte man zutrauen, sich davor mit Grausen zu wenden.

„Salafistes“ wird am Dienstag, 8.11., um 16 Uhr im Kino Atelier gezeigt. Regisseur François Margolin stellt sich im Anschluss der Diskussion. „Le ciel attendra“ läuft letztmals am Mittwoch, 9.11., um 18 Uhr im Waldhorn-Kino

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Erstellt:
08.11.2016, 10:10 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 15sec
zuletzt aktualisiert: 08.11.2016, 10:10 Uhr

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