Ein Sommer mit Gänsen

Folge eins: Noch passen sie in eine Hand

Wie verläuft ein Gänseleben? Was passiert in der kurzen Zeit von der Geburt bis zum Tod eines solchen Nutztieres? In einer kleinen Serie begleiten wir eine Gänseherde auf dem Sophienhof in Lustnau.

30.07.2016

Von Jessica Sabasch

Gänsemutter Alexandra Luik mit einem Teil ihrer Küken. Sie picken an allem, was ihnen vor den Schnabel kommt. Bild: Sabasch

Gänsemutter Alexandra Luik mit einem Teil ihrer Küken. Sie picken an allem, was ihnen vor den Schnabel kommt. Bild: Sabasch

Nach 32 Tagen, bei einer Durchschnitts-Temperatur von 37 Grad, regelmäßiger Kühlung und mindestens dreimal täglich Wenden, schlüpfen die kleinen Gänse aus dem Ei. Sobald sie getrocknet sind, werden die Küken auf die Reise geschickt. Der Vorteil des unmittelbaren Transports: sie müssen sich nicht an ein neues Futter- und Tränkesystem gewöhnen. In grünen Napfkisten, wie man sie vom Gemüsekauf auf dem Wochenmarkt kennt, kommen die Gössel aus einer Bio-Brüterei in Neumarkt in Bayern nach Tübingen. Zu zehnt sitzen sie im Vierer-Napf.

23 Kisten. 226 Gänschen. 226-mal butterblumengelbe Flauschigkeit.

Es ist ein Montag Anfang Juni. Im Neckartal blühen die Linden. Auf dem Sophienhof warten Alexandra und Dieter Luik schon auf die wertvolle Lieferung. Seit vier Jahren sind die Gänse ihr Sommergeschäft. Zu zweit kümmern sie sich neben der Arbeit um die Tiere. Auch Sohn Niklas hilft mit. Seit 2011 lebt die Familie auf dem ehemaligen Hof des Bio-Pioniers und langjährigen Tübinger Stadtrats Peter Bosch. Etwa 70 Hektar Land gehören dazu. Heutiger Pächter ist das Hofgut Martinsberg, wo Dieter Luik hauptberuflich für Ackerbau zuständig ist. Der Rottenburger Bioland-Betrieb wurde für seine mobilen Hühnerställe mit dem Tierschutzpreis Baden-Württemberg ausgezeichnet.

Morgens auf die Weide,

abends in den Stall

„Der große Stall blieb in unserem ersten Sommer in Lustnau ungenutzt. Schnell war klar, dass wir wieder Gänse haben würden.“, erzählt Alexandra Luik. „Gänsehaltung gehört zu den einfachsten Tierhaltungen“, sagt Dieter, „man lässt sie morgens auf die Weide und bringt sie abends wieder in den Stall“. Schon auf ihrem alten Hof in Sondelfingen hielten die Luiks Gänse nach Bioland-Richtlinien. Angefangen hatte es mit einem Graugänsepaar, das Alexandra an einem Sonntag vom Viehmarkt mitbrachte – oder „anschleppte“, wie Dieter dazu sagt. „Max und Paula“. Der Ganter und die Gans bekamen fünf Junge. „Unsere ersten Weihnachtsgänse, die wir verkauft haben“, erinnert sie sich. In Sondelfingen hatte sie einen eigenen Hofladen. Heute ist sie Chefin der Fleischtheke im Marktladen Vogelbeerweg.

Für ihren Mann als Landwirt sei die Schlachtung der Tiere eine Tatsache, sagt sie. Ihr falle der Abschied von den Tieren jedes Jahr schwer. Bestellen kann man die Bio-Gänse zum Martinstag und zu Weihnachten, direkt vom Hof oder in ausgewählten Geschäften.

Aber man mag jetzt noch nicht an das Ende des Sommers denken. Lieber möchte man sich heimlich eins der Küken in die Hosentasche stecken.

An manchen hängt sogar noch Dotter, als sie ihren neuen Stall erkunden. Hier sind sie in den ersten Wochen sicher vor Nässe und Greifvögeln. Dinkelspelz, die Schale des Dinkels, dient als weiches Einstreu und Knabberei. Zwei Wärmelampen sorgen für die richtige Temperatur. Die Küken sind in den ersten Wochen empfindlich gegen Unterkühlung.

Alexandra Luik sitzt barfuß inmitten der Gänschen. Noch passen zwei in eine Hand. Die reichhaltige Getreidemischung, der so genannte „Kükenstarter“, den sie die ersten Wochen gefüttert bekommen, sorge dafür, dass die Gänschen aufgehen „wie Popcorn“. In elf Tagen werden sie doppelt so viel wiegen wie heute. Wenn die Gössel nicht zu kleinen gelben Flaumteppichen gekuschelt schlafen, tapsen sie mit ihren rosa Flossen durch den Stall. Piepsen und purzeln durcheinander.

Mit ihren winzigen Schnäbeln picken die Küken an allem, was ihnen begegnet. Nur eins kommt nicht mit, kippt beim Gehen immer vornüber. Ein „Kümmerling“ hat eine angeborene Fehlstellung, kann sich nicht auf den Beinen halten. Die Gänsemutter hofft, dass ein Tapeverband hilft. Vorsichtig greift sie nach dem gelben Winzling, wickelt das blaue Band um die streichholzdünnen Füßchen. „Wenn es in ein paar Tagen nicht laufen kann, wird es von den anderen überrannt“, fürchtet sie. „Die Natur richtet’s schon“, sagt ihr Mann.

Viel Schlaf,

Pinkeln auf Füße

Der Landwirt behält Recht. Ein paar Tage später sind es nur noch 225 Küken. Und noch ein zweites Gössel wird in den Tagen darauf von seinen Artgenossen überrannt. „Die ersten Wochen sind die kritische Zeit“, weiß Alexandra Luik aus Erfahrung. Schon als Küken haben Gänse einen ausgeprägten Herdentrieb; läuft eins von ihnen los, stürmen die anderen hinterher, ohne Rücksicht auf Verluste. In diesen ersten Tagen sitzt sie oft im Gänsestall, damit die Tiere sich an ihre Stimme gewöhnen. „Das hilft, wenn man sie in ein paar Wochen in und aus dem Stall treibt.“ Jetzt aber noch Wärme und vier Wände. Viel Schlaf. Pinkeln auf Füße. Sich in Pfützen ausbreitende Zauberhaftigkeit.

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Erstellt:
30.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 16sec
zuletzt aktualisiert: 30.07.2016, 01:00 Uhr

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