Tod und Überleben im Mittelmeer

Filmgespräch mit Flüchtlingen und Vorpremiere von „Seefeuer“ im Kino Arsenal

Das Mittelmeer zwischen Libyen und Lampedusa und Flüchtlinge, die es zu überqueren versuchen, waren am Mittwoch Thema im Kino Arsenal. Bevor der preisgekrönte Dokumentarfilm „Seefeuer“ gezeigt wurde, berichteten ganz unterschiedlich Beteiligte von eigenen Erfahrungen.

22.07.2016

Von Stephan Gokeler

Wolfgang Heide berichtete von seinem Einsatz auf der Sea Watch. Bild: Privat

Wolfgang Heide berichtete von seinem Einsatz auf der Sea Watch. Bild: Privat

Tübingen. Etwa 300 Kilometer Mittelmeer liegen zwischen der Küste Libyens und der 20 Quadratkilometer kleinen italienischen Insel Lampedusa. Eine Distanz, die für Flüchtlinge auf den ausschließlich zu diesem Zweck in China gefertigten Schlauchbooten miserabler Qualität nicht zu schaffen ist. Weder verfügen die Boote über genügend Benzin an Bord noch haben sie Navigationsinstrumente, mit denen sie die winzige Insel überhaupt ansteuern könnten, berichtete Wolfgang Heide.

Der Arzt aus Heidelberg war noch Anfang des Monats für zwei Wochen dort auf der „Sea Watch“ der gleichnamigen privaten Hilfsorganisation unterwegs. 2000 Menschen hat das Schiff allein in dieser Zeit aus dem Mittelmeer gerettet, hunderte sind im selben Zeitraum gestorben. Nicht alle Opfer ertrinken, berichtete der Mediziner, manche brechen auf den hoffnungslos überfüllten Booten auch zusammen und gehen in der Mischung aus Meerwasser, Benzin und Exkrementen am Boden der Boote hilflos zugrunde.

Ein Überlebender ist Mohammad Saleh. Der Syrer, der heute in Reutlingen wohnt, hat die Flucht über den Sudan, Libyen und das Mittelmeer nach Lampedusa geschafft. Er berichtete, wie er mit 30 Personen in einem Zimmer hausen musste, dass Menschen von überfüllten Pick-up-Ladeflächen in der Sahara stürzten, ohne dass jemand sich um sie kümmerte und wie er mit 250 anderen Flüchtlingen in ein 14-Meter-Schlauchboot stieg.

Nach 14 Stunden auf offener See wurde er gerettet. Saleh schonte sich selbst nicht, als er erzählte, was dabei mit Menschen passiert. Er habe einen Afrikaner geschlagen, der im Boot versucht habe, weiter nach oben zu kommen. Und er habe nicht die Kraft aufgebracht, elternlose Kinder unter den Flüchtenden zu unterstützen: „Jeder kann sich nur um sein eigenes Leben kümmern.“ Was er bis heute nicht verstehen kann: „Jeder Syrer zahlt etwa 4000 Euro für eine solche Flucht. Warum kann ich den Betrag nicht bei einer deutschen Botschaft bezahlen und sicher mit dem Flugzeug kommen?“

Einen solchen Fluchtweg wollte Daniel Lede Abal, Landtagsabgeordneter und integrationspolitischer Sprecher der Grünen in Baden-Württemberg, nicht in Aussicht stellen. Für ihn wäre dies auch nur eine Scheinlösung, solange die Frage „Wie weiter nach der Flucht“ nicht beantwortet werde. Hierzu merkte eine Zuhörerin an, dass es inzwischen Frust unter Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsarbeit gebe, denn: „Wir haben Projekte mit viel Engagement betrieben und hätten jetzt so viel Platz in Aufnahmestellen, aber alles ist leer.“ Einigkeit herrschte, dass dies wohl nicht auf Dauer so bleiben werde. Wolfgang Heide ist sich sicher: „Es werden noch viele kommen, solange die Politik nichts an den Zuständen vor Ort ändert. Auch die ersten Klimaflüchtlinge haben sich schon auf den Weg gemacht.“

Diesen Eindruck bestärkte der anschließend im vollbesetzten Kino als Vorpremiere gezeigte Film „Seefeuer“, der als erster Dokumentarfilm überhaupt bei einer Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat. Der Autor Gianfranco Rosi hat für den Film ein Jahr lang auf Lampedusa gelebt. Eingefangen hat er dramatische Bilder von Geflüchteten, die Routine der Retter und den scheinbar von den Flüchtlingen völlig unberührten Alltag vieler Inselbewohner. Der Film zeichnet das Bild von Lebenswegen, die sich zwar unfreiwillig kreuzen, aber doch kaum etwas miteinander zu tun haben.

Nur wenige Menschen, wie der einzige Arzt auf der 4500-Seelen-Insel, lassen eine Verbindung der Welten zu. Für die meisten Insulaner scheinen die Flüchtlinge schlicht eine weitere Herausforderung, die ihnen das alles bestimmende Meer aufbürdet und die irgendwie bewältigt werden muss. Der Arzt aber findet: „Wer für sich in Anspruch nehmen will, ein Mensch zu sein, muss helfen.“ Bundesweit kommt der Film am 28. Juli in die Kinos.

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Erstellt:
22.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 50sec
zuletzt aktualisiert: 22.07.2016, 01:00 Uhr

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