Die Wiedergeburt des Film-Musicals

Eine Verneigung vor allen Menschen, die an ihren Träumen festhalten

Das Film-Musical hat bessere Zeiten gesehen, ist aber nicht totzukriegen. Jetzt kommt mit „La La Land“ ein Meisterwerk heraus, das das Genre faszinierend reflektiert und fortführt.

07.01.2017

Von MAGDI ABOUL-KHEIR

Nahezu schwerelos und doch auch in der Realität verwurzelt: Emma Stone und Ryan Gosling in „La La Land“. Foto: Studiocanal

Nahezu schwerelos und doch auch in der Realität verwurzelt: Emma Stone und Ryan Gosling in „La La Land“. Foto: Studiocanal

Los Angeles. Nicht einmal eine Minute dauert es, bis in dem Film „La La Land“ die Menschen anfangen zu singen und zu tanzen. Sie stecken im Stau von Los Angeles, Musikfetzen dringen aus den Radios – da steigen sie aus, grooven, swingen, jubeln, bis sich ihre Feierlust in einer riesigen, lebensfrohen Choreografie auf den Autodächern entlädt: Sie zelebrieren „Another Day Of Sun“.

Eine geradezu absurde Szenerie. Total unrealistisch. Und einfach herrlich – denn wir befinden uns in der Welt des Film-Musicals, die ihre eigenen Gesetze hat. Anything Goes: Alles geht, nichts muss, manchmal gelten hier nicht einmal mehr die Naturgesetze, man denke nur an den geradezu schwerelosen Tanz Fred Astaires und Gene Kellys. Auch die Hauptdarsteller von „La La Land“ heben einmal ab,

Damien Chazelles Musical ist im Kern eine simple Liebesgeschichte. Mia (Emma Stone) ist eine junge Schauspielerin, die sich mit Jobs über Wasser hält, demütigende Castings über sich ergehen lässt und davon träumt, eigene Stücke zu schreiben. Sebastian (Ryan Gosling) ist ein ernsthafter Jazz-Pianist, der in öden Restaurants klimpern muss und von einem eigenen stilvollen Club träumt. Die beiden kommen, natürlich, zusammen, und dann scheint aus ihren Träumen tatsächlich Realität zu werden – doch um welchen Preis?

In den Himmel gelobt

Wie gesagt, die Story ist simpel. Doch die emotionale Tragweite, die vieldeutige Inszenierung und das Charisma der Hauptdarsteller, die sich elegant bewegende Kamera, die traumhaften Kostüme und die grandiosen Sets, die ins Ohr und zu Herzen gehende Liedern und die kompetenten musikalischen Arrangements erheben sie ins Überlebensgroße.

In den USA wurde der Film von den Kritikern in den Himmel gelobt, an der Kasse ist er im Weihnachtsgeschäft bestens gelaufen. Zudem räumt „La La Land“ einen Filmpreis nach dem anderen ab, nachdem er im Herbst schon das richtungsweisende Filmfestival von Toronto gewonnen hat. Am Sonntagabend wird er den Golden Globe gewinnen, er gilt auch als Oscar-Favorit.

Tatsächlich haben bereits zehn Musicals den Oscar als „Bester Film“ gewonnen, von „The Broadway Melody“ (1929) bis „Chicago“ (2002). Wird „La La Land“ diese Tradition fortsetzen? Und warum hält sich diese eigentlich irreale Erzählform bis heute?

Die Wurzeln des Musicals reichen ins 19. Jahrhundert zurück. Als moderne Form der Unterhaltung setzte es sich in den 1920er Jahren durch, erst am Broadway, bald in London: zeitgemäßes Entertainment, in dem Elemente aus Operetten, Revuen, Vaudeville und Music-Hall-Show miteinander verschmolzen, sich Swing und Jazz die Hand gaben. Was zunächst noch eine Abfolge einzelner Nummern war, wurde rasch zum Handlungsgefüge, in das Songs und auch Tanzeinlagen erzählerisch eingebettet waren.

Seinen weltweiten Siegeszug verdankt das Musical dem Einzug des Tonfilms. Rasch wurden Broadway-Hits von Hollywood adaptiert, Hit-Komponisten wie Cole Porter, Jerome Kern und George Gershwin waren auf der Bühne wie auf der Leinwand erfolgreich.

Mit Fred Astaire und Ginger Rogers („Top Hat“) fand das Kino-Musical in den 30er und frühen 40er Jahren sein großartigstes Traumpaar. Zum Musical-Filmstudio schlechthin wurde MGM, das mit seinem Star Gene Kelly Meisterwerke wie „Ein Amerikaner in Paris“ (1951) und „Singin‘ in the Rain“ (1952) produzierte.

In den 60er Jahren ging es nach dem Genre-Höhepunkt „West Side Story“ (1962) künstlerisch und kommerziell bergab mit dem Film-Musical. Zwar gab es Blockbuster wie „The Sound of Music“ (1965), doch auch schmerzhafte Flops wie „Doktor Dolittle“ (1967). Die 68er-Generation sah im traditionellen Musical reaktionäres Unterhaltungsgut. Doch aus dem Geist des Rock-Musicals („Hair“, „Rocky Horror Show“) blühte das Genre erneut auf. Und dann wurde das Musical durch einen den populären Geschmack treffenden Komponisten zum erneuten Massenphänomen: Andrew Lloyd Webber. Einige seiner Werke („Jesus Christ Superstar“, „Evita“) fanden auch den Weg auf die Leinwand.

Hollywood und Broadway

Nicht vergessen werden darf Walt Disney. Der gestaltete schon den ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937) als Musical und blieb dem Genre treu. Letztlich bis heute, selbst der aktuelle Disney-Animations-Hit „Vaiana“ ist ein Musical.

Zudem steht Disney für den Trend, Film-Musicals als Bühnenstücke zu adaptieren – so hat „Der König der Löwen“ erst als riesiger Kino- und dann als ebenso großer Theater-Hit Schule gemacht. Historisch betrachtet war es freilich meist anders herum, da bediente sich Hollywood gern am Broadway.

Auch wenn große Film-Musicals nicht mehr wie einst in Serie produziert werden, so ist das Genre doch nicht totzukriegen. Nur ein paar Beispiele aus den vergangenen 15 Jahren: Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ und „Into the Woods“, der Abba-Aufguss „Mamma Mia“ und der Oscar-Gewinner „Chicago“. Disney-Hits wie „Rapunzel“ und „Die Eisprinzessin“ nicht zu vergessen.

„La La Land“ ist nun ein originär für die Leinwand geschriebenes und komponiertes Werk. Man könnte es sogar Meta-Musical nennen: Denn was auf den ersten Blick wie ein sentimentales und künstliches Unterfangen wirkt, erweist sich als Film, der die Nostalgie und die Artifizialität raffiniert spiegelt. Und bei aller Fantasie ist er eben doch in einer nicht rosaroten Realität verwurzelt – so bunt er auch ist.

„La La Land“ ist eine Reflexion über Original, Abbild und Kopie. Er beweist, dass sich in der größten Künstlichkeit Wahrhaftiges offenbaren kann. „Ich finde, Musicals eignen sich großartig, um die Balance zwischen Traum und Wirklichkeit darzustellen“, sagt Regisseur Chazelle. Und so ist es vor allem ein Film über Träume – der just aus der so genannten Traum-Fabrik kommt.

„The Fools Who Dream“ heißt die grandiose, bittersüße Final-Nummer von „La La Land“. Der bewegende Song, Emma Stones anrührende Interpretation und die kunstvolle Inszenierung machen daraus eine Verneigung vor allen Menschen, die an ihren Träumen festhalten, auch wenn es Herzen bricht.

Und wo, wenn nicht in Träumen, fangen Menschen einfach an zu singen und zu tanzen?

Fox Foto: Fox

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Da widerspricht kaum ein Cineast: Stanley Donens „Singin‘ in the Rain“ (1952) gilt als bestes Leinwand-Musical. Foto: Warner

Da widerspricht kaum ein Cineast: Stanley Donens „Singin‘ in the Rain“ (1952) gilt als bestes Leinwand-Musical. Foto: Warner

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Erstellt:
07.01.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 57sec
zuletzt aktualisiert: 07.01.2017, 06:00 Uhr

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