Kürzeste Tragödie der Weltliteratur

Ein Gespräch mit Thorsten Weckherlin über Becketts „Glückliche Tage“

Teil Drei des LTT-Premierenmarathons richtet der Hausherr persönlich ein: Intendant Thorsten Weckherlin inszeniert Samuel Becketts „Glückliche Tage“. Vor der Premiere am morgigen Sonntag sprach mit ihm Chefdramaturg Stefan Schnabel.

01.10.2016

Seine erste Tübinger Inszenierung: Thorsten Weckherlin. Archivbild: Sommer

Seine erste Tübinger Inszenierung: Thorsten Weckherlin. Archivbild: Sommer

Stefan Schnabel:Auf weiter, versengter Ebene erhebt sich ein Hügel. In diesem Hügel steckt bis zur Taille mit bloßen Armen und Schultern Winnie. Schwarze Ledertasche, Sonnenschirm und ein Sack mit Requisiten sind letzte zivilisatorische Überreste. Im Hintergrund unsichtbar schläft Willie. Laut Beckett sind beide mindestens 50 Jahre alt. Warum eigentlich?

Thorsten Weckherlin: Es geht nur mit Älteren. Beckett liefert in „Glückliche Tage“ die Schnipsel gewesener und vielleicht wieder einmal möglicher Liebe. Deshalb ein Paar in einem Alter, in dem sich Paare oft kaum noch etwas zu sagen haben. Sie fünfzig, er sechzig. Im Grunde männliche Kommunikationsverweigerung, kombiniert mit weiblicher Hoffnung: „Es wird ein schöner Tag gewesen sein.“

„Glückliche Tage“ klingen anders!

Stimmt! Wir haben’s hier mit der kürzesten Tragödie der Weltliteratur zu tun (schmunzelt)! Im zweiten Akt ist Winnie bis zum Hals im Boden. Sie kann sich nicht mehr drehen, auch nicht den Kopf, keine Morgen- oder Abendtoilette. Nur noch die Augen bewegen. Wir sehen die Hilflosigkeit, die Angst um einen geliebten Menschen, die völlige Unfähigkeit, sich auch nur davon zu überzeugen, ob die Angst gerechtfertigt ist oder nicht. Und doch hat diese unmenschliche Situation das Menschliche nicht getilgt. Die Sorge um den anderen, die Freude, ihn zu sehen, oder der Kummer, ihn nicht sehen zu können – all das wird in der Kargheit dieser Welt umso gravierender.

Wie wird diese Kargheit optisch gelöst? Kay Anthony hat das Bühnenbild gemacht.

Durch eine helle und doch düstere Schotter-Kies-Landschaft. Endzeit. Ein Hügel. Diese Kargheit scheint nichts zu tun zu haben mit der Welt, in der wir uns bewegen, in der ständig was passiert, in der wir Mühe haben, zu uns selbst zu kommen. Die beiden sind allein, weit und breit. Sie wirken wie übriggeblieben. Durch Winnies Kopf gehen einmal Erinnerungen an zwei Menschen, die hier vorbeigekommen sind, irgendwann einmal in der Vergangenheit. Und dann sind sie wieder verschwunden. Die Reduktion bringt die noch möglichen Handlungen wie unter einem Vergrößerungsglas hervor: Kämmen, Schmücken, Handhabung des Sonnenschirms. Sie hält sich an den kleinen Dingen fest, solange sie noch kann, und später an ihren Erinnerungen daran. Winnie vertreibt sich die Zeit – sie vertreibt die Zeit.

Das erinnert an das Bibelwort: Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.

Ich bin nicht bibelfest. Aber es stimmt. Über den wenigen Kontakten, die es wirklich zwischen den beiden gibt, liegt ein Schleier von geschwätzigen Alltäglichkeiten. Darüber kann ich auch immer herzlichst lachen! Aber es hat auch etwas Zartes. Und es wird wunderbar einfach klar, was man zum Leben wirklich braucht: Der Mensch kann nicht leben ohne Gesellschaft. Er braucht das Gefühl, dass es wenigstens einen anderen Menschen gibt, der einen anschaut, der einem zuhört.

Am Schluss gibt es eine wunderschöne, wenn auch unendlich traurige Liebesszene in drei Sätzen. Gatte Willie kommt auf allen Vieren um den Hügel herum gekrochen. Winnie ist überglücklich, ihn zu sehen. Er versucht, zu ihr hinauf zu kriechen, schafft es aber nicht, rutscht immer wieder zurück. Es ist wie in der Geschichte von Sisyphos.

Zwei Jahre haben Sie nicht inszeniert. Nun gibt’s mit dem Beckett Ihre erste Tübinger Regie. Aufgeregt?

Ja klar. Fühle mich entspannt-unentspannt. Ich fand das übrigens gut, die ersten beiden Jahre nur für das Haus da sein zu können und nicht im Probenraum zu verschwinden. Wir hatten ja auch ein paar Baustellen. Was den Beckett angeht: da findet die Regie bereits im Drama statt. Ich folge da dem Text. Und den beiden guten Schauspielern Sabine Weithöner und Martin Bringmann.

Info: „Glückliche Tage“ von Samuel Beckett“, Premiere am 2. Oktober im LTT-Oben“. Weitere sechs Vorstellungen im. Oktober und im November.

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Erstellt:
01.10.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 55sec
zuletzt aktualisiert: 01.10.2016, 01:00 Uhr

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