Gerne ohne Handy in die Disko

Ein Ergebnis der neuen Sinus-Studie 2016: Jugendliche sind digital gesättigt

Er gilt als „Jugendversteher“, ist in Sindelfingen aufgewachsen und hat in Tübingen Erziehungswissenschaften studiert. Peter Martin Thomas hat an der jüngsten Sinus-Studie mitgearbeitet und fragte Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren: Wie „tickt“ ihr, welche Werte sind euch wichtig? Die Ergebnisse stellte Thomas auf Einladung des Landkreises am Mittwoch in Tübingen vor.

23.09.2016

Von Christiane Hoyer

Welche Musik und welcher Tanzstil ist hip? Ein Anziehungspunkt für Jugendliche ist in Tübingen der „Southside-Battle“– Wettbewerb für Breakdancer und Hiphopper in der Panzerhalle, das Bild entstand 2012.Archivbild: Metz

Welche Musik und welcher Tanzstil ist hip? Ein Anziehungspunkt für Jugendliche ist in Tübingen der „Southside-Battle“– Wettbewerb für Breakdancer und Hiphopper in der Panzerhalle, das Bild entstand 2012.Archivbild: Metz

Tübingen. Um zu verstehen, was Jugendliche umtreibt, verwenden die Sozialforscher des Sinus-Instituts keine Standard-Fragebögen zum Ankreuzen. Sie führen intensive Gespräche mit den Jugendlichen von 90 Minuten bei diesen zuhause, fotografieren ihre Zimmer und werten ihre „Hausaufgaben“ aus: Die 72 ausgesuchten Jugendlichen aus dem gesamten Bundesgebiet (vor allem aus Großstädten und Umgebung) bekamen ein Hausaufgabenheft von den Forschern – und ein kleines Taschengeld, „damit sie die Hausaufgaben auch erledigen“, erklärte Peter Martin Thomas am Mittwochabend vor zirka 80 Zuhörern im Tübinger Landratsamt. In dem Heft notierten sie, welche Werte ihnen wichtig sind, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, welche Vorbilder sie haben und wie sie ihre Freizeit verbringen.

Dieses „Werteuniversum“ werteten die Wissenschaftler mit aus und kamen zum Teil zu überraschenden Ergebnissen. Die Lebenswelten der Jugendlichen haben in ihrer Unterschiedlichkeit zwar zugenommen. Andererseits können junge Menschen mit dieser Vielfalt ganz gut umgehen. Und in den sieben Lebenswelt-Typen, die die Sinusforscher ausgemacht haben, gibt es durchaus Übereinstimmungen: Jugendliche haben ein starkes Bedürfnis nach Familiengefüge, auch für ihre eigene Zukunft. Sie sehen keine Notwendigkeit, sich aus Protest von den Eltern in Subkulturen abzugrenzen. Thomas erklärte dies mit einem einfachen Beispiel: „Sagt der Sohn zu seinem Vater: Du, ich bin jetzt Punk. Sagt der Vater: Ich auch – und zieht die CD von den Toten Hosen aus dem Regal.“ Auch sonst, so Thomas, bieten heutige Eltern meist wenig Raum zur Abgrenzung. Sie haben selber Piercings und Tattoos, die Freundin des Sohns darf selbstverständlich über Nacht dableiben, und in der Werbung modeln Vater und Sohn für die gleiche Marke. „Wo bleibt da noch der Platz für eine eigene Jugendkultur?“, fragt Thomas.

Der Schonraum der Jugendlichen ist vor allem die Welt der digitalen Medien. Aber gerade in diesem Bereich haben die Sozialforscher von Sinus im Vergleich zur Studie vor vier Jahren einen neuen Trend ausgemacht: Jugendliche „fangen an, wieder vom Abschalten der Smartphones zu träumen“, so Thomas. Es gebe „erste Anzeichen für eine digitale Sättigung“. Diese machen Thomas und seine Kollegen auch daran fest, dass Jugendliche zunehmend eine stärkere staatliche Kontrolle der sozialen Netzwerke einfordern. Sie finden es auch „hip, wenn eine Disko ein Smartphoneverbot ausspricht“ und äußern außerdem ihren Unmut darüber, dass Schulen die digitalen Medien zu wenig in ihren Unterricht miteinbeziehen – auch im Sinne von Aufklärung über den Umgang mit persönlichen Daten im Netz.

Mit der Digitalisierung, so Thomas, hat sich in den vergangenen zehn Jahren für junge Menschen „so ziemlich alles verändert“. Das erste I-Phone kam 2007 auf den Markt, jetzt gibt‘s schon das I-Phone 7, Whatsapp erobert die Welt der Jugendlichen seit 2009, Facebook ging 2010 an den Start, ist bei jungen Leuten aber schon wieder out. Während Thomas, der zu den „Babyboomer-Jahrgängen“ der 1970-er Jahre zählt, mit drei Fernsehprogrammen und der Zeitschrift „Bravo“ aufwuchs, sind Jugendliche heute so digital vernetzt, dass „sie immer live dabei sind“. Die permanente Flut von Nachrichten und Ereignissen, so Thomas, führe bei jungen Leuten dazu, dass sie sich „wie in einem Labyrinth fühlen“. Umso größer sei daher ihr Bedürfnis nach sozialer Stabilität.

Wegen demografischer Veränderungen haben junge Menschen heute viel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Doch ihr Verständnis für das aktive, kontinuierliche Mitwirken an demokratischen Prozessen – zum Beispiel im Kreistag oder Gemeinderat – sei nicht stark ausgeprägt. Zuverlässigkeit und eine starke Bindung an die Heimat brächten vor allem Jugendliche mit, die die Sinusforscher dem Lebenswelttypus der „Konservativ-Bürgerlichen“ zuordnen. Von denen hört man auch den Satz: „Ich möchte, wenn ich Kinder habe, zuhause bleiben und den Haushalt machen.“ Vorwiegend positiv bewerteten Jugendliche bei ihrer Befragung vor einem Jahr die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland – getreu dem Motto: „Helfen statt hetzen“.

Welche Schlüsse lassen sich aus den Ergebnissen ziehen? Diese Aufgabe überlässt Thomas nun anderen wie der Bundeszentrale für politische Bildung. Er sieht aber die Wertvorstellungen von Jugendlichen als „Vorboten gesellschaftlicher Entwicklungen“ und zitiert den Slogan: „Nur wer versteht, was Menschen bewegt, kann sie bewegen.“

Peter M. Thomas Privatbild

Peter M. Thomas Privatbild

Die sieben „Lebensweltmodelle“ der unter 18-Jährigen

Sinus: Das Sinus-Institut mit Sitz in Heidelberg und Berlin ist eine Markt- und Sozialforschungs- GmbH. Auftraggeber der Jugendstudie 2016: Bundeszentrale für politische Bildung, Bund der Deutschen Katholiken, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen-Akademie.

In der aktuellen Studie haben die Sinus-Forscher sieben Lebensweltmodelle der unter 18-Jährigen ausgemacht: 1. Adaptiv-Pragmatische: Wichtige Werte: Familie, Leistung, Ordnung, Sicherheit, mittleres Bildungsniveau; 2. Konservativ-Bürgerliche: Heimatverbunden, soziale Verantwortung in Vereinen und Kirche, gläubig, lesen gerne, wollen Familie gründen (mittleres bis hohes Bildungsniveau); 3. Experimentalistische Hedonisten, „Szene-Jugendliche“ (Gothics, Emos), kreativ, gegen den Mainstream, gut untereinander organisiert (mittleres Bildungsniveau); 4. Expeditive: Das Leben als Abenteuer, Lifestyle, Leben genießen, erfolgsorientiert, wenig Bereitschaft zu Bindung (hohes Bildungsniveau); 5. Sozialökologische: Suche nach Lebensalternativen, kritisches Hinterfragen der Gesellschaft (hohes Bildungsniveau); 6. Materialistische Hedonisten: Markenklamotten, bestimmte Musik hören als Zugehörigkeit zur Clique, Entertainment, Geld verdienen, Familie später (niedriges bis mittleres Bildungsniveau); 7. Prekäre: Schwierige Startvoraussetzungen, Eltern oft arbeitslos, von der Lebenswelt der anderen abgehängt (niedriges Bildungsniveau).

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Erstellt:
23.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 38sec
zuletzt aktualisiert: 23.09.2016, 01:00 Uhr

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