Von Hiergebliebenen und Heimkehrern

Ein Dokumentarfilm über Kusterdingen spürt den Charme der Härten auf

Wie sieht das Landleben der Zukunft aus? Besser gesagt: Hat Landleben überhaupt eine Zukunft? In einer dreiteiligen Dokumentation stellt der Südwestrundfunk Gemeinden vor, die mit Tradition und Moderne jonglieren. Eine davon ist Kusterdingen. Am Mittwochabend feierte der Film im Klosterhof Premiere.

28.03.2016

Von Christine Laudenbach

Spaghetti-Kürbis von gegenüber: Waldhorn-Chef Gerhard Mayer (links) und Küchenhilfe Musa beim Einkauf. Screeenshot: Schweizer

Spaghetti-Kürbis von gegenüber: Waldhorn-Chef Gerhard Mayer (links) und Küchenhilfe Musa beim Einkauf. Screeenshot: Schweizer

Kusterdingen. Es geht um Menschen. Menschen, die ihre Träume und Ideen leben und gerne auf den Härten wohnen. Eigentlich viel mehr als das. Ganz gleich, ob Einheimische, Zugezogene oder Rückkehrer, ob alte oder neue Projekte: Alle, die im Film über ihr (Land-)Leben erzählen, sind überzeugte Kusterdinger. Sie fühlten sich nicht als Tübinger und auch nicht als Reutlinger. „Das hat mir imponiert“, sagt Autor David Spaeth, der im Auftrag des SWR in den Härten-Dörfern unterwegs war. Den Focus legte das Filmteam bei „Landleben 4.0“ auf die Frage, wie dem demographischen Wandel getrotzt wird. Wie kommt es, dass nicht nur Alteingesessene hier leben wollen und der Ort, entgegen aller Prognosen des Statistischen Landesamtes, nicht etwa an Einwohnern verliert, sondern stetig zulegt?

Den Grund hierfür sehen Spaeth und das SWR-Team ganz klar in den „aktiven Bewohnern“, deren Kreativität, Engagement und Offenheit. Neben Bischoffingen (Kaiserstuhl) und Niederstetten (Main-Tauber-Kreis) pickte sich die Crew Kusterdingen heraus, weil das Wachstum der Gemeinde seit gut 60 Jahren im Rahmen einer Studie beobachtet wird (siehe Infokasten). „Warum das Dorf zu den Dörfern gehört, in die man gerne zieht“, sei ihm ziemlich schnell klar geworden, sagte Spaeth zum Premierenpublikum im rappelvollen Klosterhof – und meinte damit selbstverständlich die Gesamtgemeinde. Von September bis November vergangenen Jahres wurde gedreht, netto jedoch lediglich zwei Wochen lang. Tipps, wo die besten Ankerpunkte, wie Spaeth seine Beispiele nennt, zu finden sind, bekam das Team von Bürgermeister Jürgen Soltau.

Das erste Mal stieg der 40-jährige Filmautor bei seinen Recherchefahrten in Wankheim aus, auf dem Hof der Kemmlers. Die seit Generationen hier verwurzelte Familie betreibt Landwirtschaft und Brennerei, versucht aber auch mit Festscheune und Ferienwohnungen, Hofladen und -café andere Wege zu gehen. Sohn Andreas Kemmler, der als studierter Betriebswirt mit neuen Ideen, etwa seinem Hühnermobil, den elterlichen Betrieb in Schwung bringt, ist einer der jungen Hiesigen, die mit kreativen Ideen die ländliche Region beleben.

Von Mähringen auf die Bermudas – und zurück

Andere waren weg und sind nach Jahren zurückgekehrt. Gerhard Mayer etwa und Aaron Gerdemann. Gerdemann zog nach 15 Jahren mit seiner jungen Familie wieder zurück auf die Härten – von denen er als Zwanzigjähriger geflüchtet war. Das Altbekannte erlebt er jetzt in einem anderen Licht. Mayer, 64, spülte es als jungen Mann aus der elterlichen Metzgerei in die Welt. Er arbeitete als Koch auf den Bermudas und kam schließlich doch zurück, um in Mähringen den Landgasthof aufzubauen. „Ich bin nach wie vor Mähringer“, sagt er überzeugt und strahlt in die Kamera. Grund zum Strahlen hat auch Musa. Der Flüchtling aus Gambia arbeitet an der Seite Mayers als Küchenhilfe im Waldhorn. „Du bist hier wichtig“ bekomme er vermittelt, jeden Tag. Seitdem gehe es ihm gut.

Aber nicht nur Alteingesessene kommen zu Wort. Viele der rund 8400 Kusterdinger sind zugezogen. Extremsportlerin Friederike Feil etwa, die irgendwann mit ihrer Wohngemeinschaft von Tübingen nach Wankheim umsiedelte. Die 29-Jährige trainiert im Dachgeschoss der väterlichen Firma ihre Fitness und lädt dazu auch Flüchtlinge ein. Drei von ihnen begleiteten sie zur Premiere am Mittwoch. Die Sportlerin wird wie alle Protagonisten im Film nur beim Vornamen genannt. Für diese Variante habe man sich in Anlehnung an den Untertitel 4.0 entschieden, erklärt die verantwortliche Redakteurin Mia Funk, „um im Look von Facebook“ zu bleiben. Geplant sei auch, einenBlogg einzurichten, auf dem die Kusterdinger andere Dörfer im Land coachen.

Auch Jörg, Birgit und Dieter verkörpern das neue, das kreative Kusterdingen. Oder die Aktiven des Härtennetzwerks, die Dienstleistungen gegen Zeitgutschriften anbieten. Jörg, im richtigen Leben Jörg Jäger, ist Fotograf. „Seine Werkstatt könnte man in Szenevierteln von Großstädten finden.“ Er fühlt sich auf den Härten wohl. Im ehemaligen Delfina-Textilfabrikgebäude. Birgit und Dieter Stoll sind seit Jahren eine feste Größe in Kusterdinger Kulturkreisen. Die beiden Musiker stellen das Scheunenkino der Filmfreunde vor und ihre Konzertreihe. Ganz zufällig gastierte während der Dreharbeiten gerade eine angesagte US-amerikanische Bluegrassband im Metropol. Auch sie kam ins Bild. Die Amerikaner waren beeindruckt, dass die Scheune in der Lederstraße drei Jahre älter ist als ihr Land. Auf die Schnittmenge aus Tradition und kreativer Szene stößt der Besucher eben immer wieder auf den Härten.

Die Resonanz nach der bei gefühltem Dauersonnenschein gedrehten Dokumentation? Die meisten Härten-Bewohner scheinen wie Helga Kemmler zu empfinden, die im Film zusammenfasst: „Eigentlich ist die Gegend bei uns sehr schön.“ Kurz: Das Premierenpublikum aus Protagonisten und Interessierten war begeistert von dieser knapp einstündigen fast schon zuR Liebeserklärung geratenen Wohlfühlfolge. „Wäre ich nicht schon vor 16 Jahren hergezogen, würde ich mich bei Ihnen, Herr Soltau, um ein Grundstück bewerben“, sagte etwa Gemeinderätin Elvira Hornung. Die „wunderschönen Aufnahmen“, lobten die Zuschauer ebenso, wie die „wunderschön gezeigten Menschen“ und deren Offenheit. Dass „auf dem Dorf leben“ nicht gleichbedeutend ist mit „hier leben die Deppen“, hat Birgit Stoll „gut getan“ – ebenso, dass nicht nur in Berlin Szene möglich ist. Und Bürgermeister Jürgen Soltau? Der freut sich bereits „auf die nächsten Folgen“. Einzig Gemeinderätin Sabine Reichert gab vorsichtig zu bedenken, die Idylle sei doch ein bisschen „schön gezeichnet“.

Kritik hätte vom

Thema abgelenkt

Konflikte zeigen oder Kritik, so Mia Funk auf Nachfrage, wollte man in diesem Format jedoch bewusst nicht. Das hätte vom eigentlichen Thema entfernt. Das Grundprinzip der Sendung sei „Menschen erzählen ihr Leben“ und verraten damit, wie eine Gemeinde wie Kusterdingen nicht vergreist, sondern jung und aktiv bleibt. Eine Botschaft, die die Zuschauer am Ende nochmal eindrucksvoll mit auf den Weg bekommen – wenn Friederike Feil in den leuchtenden Härten-Sonnenuntergang läuft.

Info: Im SWR-Fernsehen läuft die
Sendung am Freitag, 8. April, 21 Uhr. In der Mediathek ist sie bereits am Vortag ab 16 Uhr verfügbar: www.SWRmediathek.de.

Spaghetti-Kürbis von gegenüber: Waldhorn-Chef Gerhard Mayer (links) und Küchenhilfe Musa beim Einkauf. Screeenshot: Schweizer

Spaghetti-Kürbis von gegenüber: Waldhorn-Chef Gerhard Mayer (links) und Küchenhilfe Musa beim Einkauf. Screeenshot: Schweizer

„Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel“ – eine Studie

Zwischen Uni- und Industriestadtgelegen, geriet Kusterdingen ab 1952 in den Focus des Braunschweiger Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts, das eine
Studie
über die „ländlichen Lebensverhältnisse
im Wandel“ koordiniert. Ursprünglich aus der Sorge vor der „Landflucht“ im Nachkriegsdeutschland wurden alle zwanzig Jahre die Lebensverhältnisse und die Entwicklung in 14 Dörfern und deren Umland in Deutschland beleuchtet, zuletzt 2012.

Anfänglich waren es zehn westdeutsche Orte, 1992 wurde die Studie um vier ostdeutsche Dörfer erweitert. Kusterdingen betreut(e) die Uni Hohenheim im Auftrag. Der
Härtengemeinde wurde ein Ausbluten vorhergesagt. Aus Baden-Württemberg ist noch Bischoffingen
(Kaiserstuhl) dabei.

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Erstellt:
28.03.2016, 15:55 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 16sec
zuletzt aktualisiert: 28.03.2016, 15:55 Uhr

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Tom 09.04.201619:22 Uhr

In der Mediathek des SWR habe ich den Film nicht gefunden. Die Zeit von 21 bis 21:45 am 8.4. ist dort nicht belegt, genau da wo der Film wohl lief - Schade.

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