Kommentar: Palmer sollte keine Ängste schüren

Die meisten Übergriffe gegen Frauen passieren im vertrauten Umfeld, nicht im öffentlichen Raum

Sei es in Interviews, in seinem am Donnerstag vorgestellten Buch, erst am Freitag wieder auf Facebook: Boris Palmer klagt unermüdlich, das Sicherheitsgefühl von Frauen in Tübingen habe sich mit dem Zuzug Geflüchteter verändert.

06.08.2017

Von Renate Angstmann-Koch

Boris Palmer. Bild: Franke

Boris Palmer. Bild: Franke

Dabei gibt die Kriminalitätsstatistik keinen Hinweis auf eine stärkere Gefährdung her: Im Mittel der letzten zehn Jahre gab es jährlich immer um die fünfzig Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – und 2016 keine auffällige Veränderung (wir berichteten). Doch die Statistik ficht den Mathematiker nicht an, Palmer bleibt bei seiner Meinung: „Das habe ich auch gar nicht behauptet, weil in der Statistik vieles gar nicht auftaucht“, schreibt er auf Facebook. Und weiter: „Das Gefühl der Frauen in unserer Stadt, sicher im öffentlichen Raum sein zu können, hat sich verändert. Das weiß ich aus vielen Gesprächen.“

Das kann durchaus sein. Das Gefühl von Sicherheit ist subjektiv. Vorweg: Ich persönlich fühle mich in Tübingen nicht weniger sicher als vor fünf, zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren. Aber es mag sein, dass es anderen, zumal jüngeren Frauen anders geht. Dass sie es beklemmend finden, wenn Gruppen junger Männer mit Macho-Gehabe „den öffentlichen Raum für sich einnehmen“, wie Palmer schreibt. Oder dass sie tatsächlich schlechte Erfahrungen gemacht haben und von einem Fremden bedrängt oder begrapscht wurden.

Angst und Unsicherheit lassen sich abschwächen oder verstärken, aber nicht wegdiskutieren. Ein Beispiel: Ich ängstige mich allein im Wald. Das finde ich sehr schade, denn ich liebe stille Spaziergänge. Doch ich kann mir tausendmal sagen, dass es so gut wie ausgeschlossen ist, von einem verirrten Wolf angefallen zu werden. Dass ich mit fast ebenso großer Sicherheit auf einsamen Wegen keinem Menschen begegnen werde, der mir Böses will. Es mag noch so irrational sein: Ich fühle mich nachts dennoch wohler auf einer belebten Straße in Berlin, obwohl dort ein Überfall weit wahrscheinlicher und Hilfe von Passanten keinesfalls garantiert ist.

Ein leicht beklommenes Gefühl bleibt Frauen leider überall, und es raubt ihnen Freiheit. Was an Boris Palmers Lamento nervt, ist jedoch der Alarmismus, den er verbreitet – und seine absolut falsche Grundannahme: „Tübingen war eine der Städte, in denen sich Frauen ohne Angst frei bewegen konnten.“ Das können und konnten sich Frauen nirgends und nie, auch in Tübingen nicht. Und das lernen sie auch von klein auf.

Als junges Mädchen in Mannheim wurde ich dazu angehalten, mich vor italienischen Gastarbeitern und US-amerikanischen GIs zu hüten. Später in Tübingen waren es die französischen Soldaten, vor denen man sich in acht nehmen sollte. Stets werden Mädchen und Frauen vor fremden Männern gewarnt – dabei geschehen statistisch die meisten Übergriffe im vertrauten Umfeld, nicht im öffentlichen Raum.

„In Deutschland ist jede vierte Frau von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen. Gewalt an Frauen ist kein Problem, das Geflüchtete nach Deutschland importieren“, betonten Vertreterinnen des Filmfests Frauenwelten und von Terre des Femmes am Samstag in einem Leserbrief. Das Problem mag auffälliger geworden sein, aber es ist gewiss nicht neu. Sexualisierte Gewalt muss bekämpft werden – auch, aber eben nicht nur, wenn Zuwanderer als Täter in Frage kommen. Man kann von Trägern öffentlicher Ämter verlangen, Lösungen zu suchen, statt falsche Ängste zu schüren.

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Erstellt:
06.08.2017, 18:05 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 34sec
zuletzt aktualisiert: 06.08.2017, 18:05 Uhr

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Renna 06.08.201722:54 Uhr

Das Gefühl, sich als Frau, besonders abends, im öffentlichen Raum nicht mehr so frei bewegen zu können wie früher, mag, statistisch betrachtet, subjektiv erscheinen, aber das Unbehagen ist da und hat mit den bekannt gewordenen sexuellen Übergriffen und Rohheitsdelikten von Flüchtlingen zu tun. Boris Palmer spricht mir aus der Seele! Und ich habe Hochachtung vor seiner Zivilcourage.

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