Bei der Post politisiert

Die langjährige Leiterin des Tübinger Arbeitslosentreffs TAT geht nach Freiburg

Mehr als zehn Jahre lang setzte sich Gabriele Wülfers beim Tübinger Arbeitslosentreff (TAT) für die Rechte von Erwerbslosen und prekär Beschäftigten ein. Nun wechselt die 50-Jährige nach Südbaden zur Freiburger Initiative gegen Arbeitslosigkeit (Friga).

09.08.2016

Von DOROTHEE HERMANN

Dafür einstehen, wie Arbeit organisiert wird: Gabriele Wülfers. Bild: Sommer

Dafür einstehen, wie Arbeit organisiert wird: Gabriele Wülfers. Bild: Sommer

Tübingen. Am kommenden Montag ist Gabriele Wülfers’ erster Arbeitstag in Freiburg. Eine ehemalige Fabrik ist das Domizil der Freiburger Initiative gegen Arbeitslosigkeit (Friga). Dort wird die 50-Jährige zunächst sozial- und arbeitsrechtliche Beratung machen „wie in Tübingen auch“ und ihre künftige Wirkungsstätte kennenlernen. Auf die Dauer soll sie das Zentrum leiten.

Anders als der Tübinger Arbeitslosentreff (TAT) bietet die „Sozialberatung in der Fabrik“ keinen offenen Treff. „Das Konzept ist ein bisschen anders“, sagte Wülfers vor kurzem beim Abschiedsgespräch in der TAGBLATT-Redaktion. Es gibt eine Schreinerei, eine Fahrradwerkstatt, einen Kindergarten – alles in Selbstverwaltung. Zudem hat Freiburg zwei weitere Anlaufstellen für Arbeitslose.

„Ich hatte nochmal Lust auf etwas Neues. Da fragt man sich immer, wann ist ein guter Zeitpunkt zu gehen“, erläuterte sie den Wechsel. Seit vier Jahren arbeitet ihre Kollegin Rut Kittel beim TAT mit. „Sie ist gut eingearbeitet. Und dann kam die Anfrage aus Freiburg.“ Als zweiter Berater ist der junge Kulturwissenschaftler Fabian Everding eingestiegen.

„Der TAT heißt immer noch TAT“, sagte Wülfers. Nur die Homepage ist seit kurzem unter „prekaercenter.de“ zu finden. „Das war immer meine Message“, betont sie: „Wir haben einen hohen Anteil von Menschen, die arbeiten, aber trotzdem aufs Jobcenter angewiesen sind.“ Werden sie arbeitslos, stehen sie besonders ungeschützt da. „Das sollte ein bisschen reflektiert werden“ – samt kleiner Anspielung aufs Jobcenter. Mitte Dezember 2004 fing Wülfers beim TAT an, nach zwei Jahren ehrenamtlicher Mitarbeit. „Damals waren viele Frauen dabei. Es waren quirligere Zeiten“, erinnert sie sich. Es gab einen breiten Widerstand gegen Hartz IV, das zwei Wochen später eingeführt wurde. „Das hat die Leute umgetrieben. Sie haben sich damit auseinandergesetzt, was kommt da auf uns zu. Es gab viele Protestaktionen.“

Mittlerweile sei der Kampfgeist gedämpfter. „Jetzt leben die Leute ja schon jahrelang mit Hartz IV. Das hat sie schon verändert. Diese Energie, die wir damals gespürt haben, ist nicht mehr so vorhanden.“ Das kann Wülfers wütend machen: „Wenn jemand Arbeitslosengeld II bezieht und zum Jobcenter gehen und bitten muss, ob er umziehen darf, ist er nicht souverän.“ Andererseits solle er souverän handeln, sich einen Job suchen, seine Arbeit gut machen. „Das passt nicht zusammen.“

Im TAT ist die Beratung für Erwerbslose nach wie vor sehr gefragt, so Wülfers: „Die Unsicherheit ist sehr groß: Stimmt das in meinem Bescheid?“ Die Besucher seien älter geworden. „Jüngere Erwerbslose kommen zwar in die Beratung, vielleicht angeregt durch die Eltern. Als Anlaufstelle für die Freizeit suchen sie sich andere Möglichkeiten.“

Manche Erwerbslose seien sehr lange aus dem Arbeitsleben heraus. „Einer aus unserer Gruppe, ein Akademiker, hat nach zehn Jahren tatsächlich eine Arbeit gefunden, die annähernd seiner Qualifikation entspricht.“ Die Betriebe ließen sich aber kaum auf solche Bewerber ein. Sie fürchteten den Aufwand, sie wieder an veränderte Arbeitsabläufe heranzuführen. „Das ärgert mich dann immer wieder“, sagt sie. „Die Leute sind ja hochmotiviert.“

Ein weiteres Dauerproblem in Tübingen sind die hohen Mieten: Entweder Hartz IV-Bezieher zahlen die Zusatzkosten selbst, die nicht vom Mietzuschuss abgedeckt werden (dann bleibt ihnen noch weniger als der monatliche Regelsatz von 404 Euro), oder sie ziehen um. „Viele müssen früher oder später rausziehen in den Landkreis.“ Im scheinbar günstigeren Umfeld wartet das nächste Problem: „Dann brauchen sie günstige Fahrzeiten für den öffentlichen Nahverkehr.“

Die gebürtige Bremerin musste ihr Amerikanistik-Studium ohne jede Unterstützung stemmen. Deshalb arbeitete sie nebenher bei der Tübinger Post. Damals bekam Wülfers erste Kontakte zur Gewerkschaft und lernte, „dass man dafür einstehen muss, wie die Arbeit organisiert und wie sie bezahlt wird“ – auch mit Streiks. „Damals gab es noch den Herbert Binder und die Deutsche Postgewerkschaft.“ Binder als deren Vorsitzender habe sehr davor gewarnt, die Post in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und sah es kritisch, dass Mitarbeiter Anteilsscheine erwerben sollten: „Überlegt euch gut, was da passiert: Ihr seid dann eure eigenen Aktionäre“, zitierte sie.

Offenes Frühstück und Tischlein-deck-dich

Der Tübinger Arbeitslosentreff in der Neckarhalde 40 bietet „Sozialberatung für Hartz IV-Betroffene“. Computer und Zeitung für Bewerbungen sind vorhanden. Besucher können sich bei Bewerbungen auch helfen lassen. Jeden Donnerstag ab 10 Uhr gibt es ein offenes Frühstück. Neu ist das Mittagessen „Tischlein-deck-dich“ (dienstags ab 12 Uhr), bei dem TAT-Aktivisten gemeinsam mit Flüchtlingen kochen. Wie der TAT musste auch das Asylzentrum Tübingen in den ehemaligen Schülerhort umziehen.

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Erstellt:
09.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 14sec
zuletzt aktualisiert: 09.08.2016, 01:00 Uhr

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