Renaturierung: Störsteine im befreiten Bachbett

Die Ammer soll zwischen Stuttgarter Straße und Neckarmündung wieder natürlicher fließen

Bolzgrade fließt die Ammer in ihrem schmalen Bett durch Lustnau. Die recht steilen Ufer sind befestigt mit Steinen und Drahtschotterkästen. Hier plätschert nichts – gleichmäßig zieht sich der kleine Fluss an der Straße entlang. Doch es tut sich was: Unterhalb der Brücke, über die die Stuttgarter Straße führt, steht ein Bagger im Bachbett, ein zweiter am Ufer.

31.08.2017

Von Sabine Lohr

Die Bagger heben Steine aus dem befestigten Bachbett und erweitern das Ufer der Ammer an der Nürtinger Straße. Bild: Faden

Die Bagger heben Steine aus dem befestigten Bachbett und erweitern das Ufer der Ammer an der Nürtinger Straße. Bild: Faden

Sie heben die Steine aus, mit denen 1975 das Bachbett befestigt wurde, nachdem die Ammer nach extrem starken Regenfällen über die Ufer getreten war und Lustnau unter Wasser gesetzt hat. Auch an den Ufern buddeln die schweren Geräte: Das Bachbett wird verbreitert, wozu die Bagger Erde abtragen. „Das werden am Ende an die 1200 Kubikmeter sein“, schätzt Albert Füger, Leiter des Fachbereichs Tiefbau im Tübinger Rathaus.

Er erklärte gestern bei einem Ortstermin einem guten Dutzend Interessierten, was an der Ammer gerade gemacht wird und warum. Dazu hatte er eine 200 Jahre alte Flurkarte mitgebracht. Die Ammer, das ist gut auf der Karte zu sehen, schlängelt sich in weiten Bögen durch die Landschaft, die damals noch da war. Heute ist sie das nicht mehr: Alles links und rechts des Flüsschens ist bebaut. Da ist kein Platz mehr für einen mäandernden Fluss. „So kriegen wir das nie wieder hin“, sagte Füger deshalb.

Aber ein ganz klein wenig natürlicher solle die Ammer trotzdem wieder fließen, so gut es eben gehe. Denn: „Die großen Bachforellen, die in ihre Laichgebiete bei Reusten schwimmen wollen, kommen in solch begradigten Bächen nicht mehr durch“, so Fügers Mitarbeiterin Heike Weißer, Spezialistin für Gewässer. Und die kleinen Fische finden keinen Schutz in dermaßen gerade fließenden Gewässern – die befestigten Ufer haben keine Nischen, wo sie sich verstecken können.

Auch Gumpen sollen laut Füger eingebaut werden – jene tiefen Stellen, in denen man sogar baden kann. So wie es sie früher gab. „Viele Lustnauer Kinder haben in der Ammer schwimmen gelernt“, sagte ein Anwohner. Ob sich die neuen Gumpen dafür eignen, sei dahingestellt, aber: „Das ist doch schön, wenn künftig mehr Kinder in der Ammer spieled und läbbred“, stellte Füger in schönem Schwäbisch in Aussicht. Eine kritische Anwohnerin bemerkte, dass die Ammer aber, bevor sie nach Lustnau komme, ja durch Tübingen fließe. „Und ob ich dann noch meine Kinder da baden lassen würde, na, ich weiß nicht.“ Füger sagte dazu, die Steinlach jedenfalls sei gefährlicher, weil sie von Abwasser aus der Kläranlage gespeist werde – die Ammer dagegen nicht.

Dieselbe Anwohnerin befürchtet, dass die Aeulestraßen-Brücke zusammenbricht. Denn auch dort wurden schon einige Steine am Ufer, auf dem sie steht, entfernt. Füger schwor Stein und Bein, dass das nicht passieren werde, weil man das Fundament der Brücke nicht anfasse. „Da wird genügend deutscher Beton verbaut, damit das hebt.“ Die Frau blieb skeptisch.

Einige der Steine, die jetzt von den Baggern an die Ufer geschafft wurden, werden wieder ins Bachbett eingebaut. „Störsteine“ heißen sie dann, weil sie den ruhigen Lauf des Wasser stören und das auch sollen. Genauso wie die Baumstämme und Wurzelstöcke, die auch noch in den Fluss kommen „Da fließt das Wasser kurvenreich drumherum, es bilden sich Sedimente und kleines Geröll häuft sich an“, erklärte Weißer. Das sei vor allem für Kleinstlebewesen gut, die sich in solchen Stellen wohl fühlen – und die jetzt in diesem Stück der Ammer eigentlich keine Lebenschance hätten.

Was aber, wenn es stark regnet? Sind die Anwohner dann immer noch vor Hochwasser geschützt? Ja, sagte Weißer. Denn egal, was gemacht werde, der Hochwasserschutz dürfe nicht schlechter werden. Was gar nicht so einfach sei: Ist das Bachbett breiter, hat der Fluss zwar mehr Platz und kommt nicht so schnell hoch. Aber es wachsen nach der Renaturierung halt auch Pflanzen im Bachbett, die das Wasser nicht mehr so schnell abfließen lassen wie ein befestigtes Bachbett.

Und dann kam noch eine Kritik: Das TAGBLATT hatte vor zwei Jahren berichtet, dass die Stadt nur ein klein wenig ändern wolle an der Ammer – die Ablagerungen an den Ufern entfernen, das Bachbett ein wenig umgestalten. Alles zusammen für 100 000 Euro. „Dann war der Bericht falsch“, stellte ein Anwohner fest. War er aber nicht, wie Füger erklärte. Die Stadt wollte es damals tatsächlich genau so machen, wie es das TAGBLATT berichtet hat. Aber dann winkte das Land mit wesentlich höheren Zuschüssen. Übernahm es bis dahin für Gewässerrenaturierungen die Hälfte der Kosten, war es plötzlich bereit, 85 Prozent zu bezahlen. Daraufhin plante die Verwaltung um und verändert die Ammer nun wesentlich stärker als sie noch vor zwei Jahren vorhatte. „Die gesamte Maßnahme kostet jetzt rund 500 000 Euro“, so Füger.

Zwei Monate dauert es noch, bis die Ammer zwischen Stuttgarter Straße und der Mündung in den Neckar befreiter und natürlicher fließen kann. „Wenn das Wetter mitmacht“, schränkte Tiefbau-Mitarbeiter Josef Pfister ein.

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Erstellt:
31.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 22sec
zuletzt aktualisiert: 31.08.2017, 01:00 Uhr

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