US-Fußball

Der deutsche Dirigent

Bastian Schweinsteiger gibt bei Chicago Fire den Takt vor. Mit ihm ist aus dem notorisch erfolglosen Team innerhalb kürzester Zeit eine Top-Mannschaft geworden.

12.08.2017

Von JENS SITAREK

Im März heuerte Bastian Schweinsteiger bei Chicago Fire an, inzwischen ist der Weltmeister als Taktgeber in dem amerikanischen Klub etabliert. Foto: Actionpress

Im März heuerte Bastian Schweinsteiger bei Chicago Fire an, inzwischen ist der Weltmeister als Taktgeber in dem amerikanischen Klub etabliert. Foto: Actionpress

Chicago. Momente gibt es, da muss Bastian Schweinsteiger den Ball nicht einmal berühren, um Einfluss auf das Spiel zu nehmen. Beim souveränen 4:1-Sieg im Heimspiel gegen New England Revolution ließ er zuletzt einen Pass von Patrick Doody kurz vor der Halbzeit einfach durch die Beine laufen, damit Juninho hinter ihm mit einem Distanzschuss vollenden konnte – es war das wichtige 2:1 im Toyota Park. Das Stadion fasst 20?000 Zuschauer, in der ersten Reihe sind es keine drei Meter bis zum Spielfeld. Vor wenigen Tagen wurde eine Zusatztribüne mit 750 Plätzen installiert, wegen der großen Nachfrage. Wer weit genug oben sitzt, kann die Autobahn und die Skyline von Chicago sehen. Unzählige Flugzeuge kreuzen den Himmel, einige fliegen direkt an der Arena vorbei.

18 Spiele für Chicago Fire in der Major League Soccer (MLS), zwei Tore, eine Vorlage – das ist Schweinsteigers Bilanz. Doch die neue Qualität, die er seinem Klub verleiht, spiegelt sich nicht in diesen Zahlen. Oft sind es seine Pässe, die das Spielfeld erst öffnen. Gegen New England hat er die mit Abstand meisten Ballkontakte.

Der Weltmeister spielt im Mittelfeld, aber er lässt sich oft hinter die Abwehr fallen und baut das Spiel auf. Es erinnert an einen Libero, von dem man glaubte, dass es ihn im modernen Fußball eigentlich gar nicht mehr geben dürfe. Im Vergleich zu Europas Top-Ligen hat Schweinsteiger bei Ballbesitz viel mehr Zeit und Raum. Dazu kommt, dass einige Gegenspieler wie in Ehrfurcht vor ihm erstarrt scheinen.

Bereits vier Stunden vor dem Spiel gegen New England startet draußen vor dem Stadion ein Fanfest – für die ganze Familie. Es wird gegrillt und über Fußball geredet, ein Thema ist auch das Supercup-Finale zwischen Bayern und Dortmund. Und natürlich wird auch Fußball gespielt. Für Kinder und Jugendliche läuft ein Sommercamp auf Kunstrasenplätzen, der Besuch im Stadion gehört anschließend dazu.

Drinnen reißt Schweinsteiger die Arme hoch, hebt die Hand, fordert den Ball, zeigt die Einsätze seiner Mitspieler an – wie ein Dirigent. Seine Mitspieler suchen und finden ihn. Schaltet sich der Deutsche ins Spiel nach vorne ein, hält ihm Dax McCarty den Rücken frei. Für viele Aktionen kriegt Schweinsteiger, der Manchester United nicht mehr gut genug war, Sonderapplaus. Wenn er auf seinen Einfluss angesprochen wird, sagt er Sätze wie diese: „Der ist beim Fußball nicht so groß wie in anderen Sportarten. Es spielen ja elf gegen elf.“

Gewaltiger Unterschied

Und was denkt er über seine neue Bühne? „Physisch enorm stark“, findet Schweinsteiger die nordamerikanische Profiliga. „Es mangelt jedoch an Spielverständnis.“ Der freie Mitspieler werde nicht immer gesehen. Zudem würden zu viele Bälle einfach so verloren. „Der Unterschied zu Europa ist schon gewaltig, aber die MLS hat Potenzial.“ Chicago Fire waren seine Dienste stolze 4,5 Millionen Dollar Saisongehalt wert.

„Bastian macht einen tollen Job“, sagt sein serbischer Trainer Veljko Paunovic. „Er hat uns die Mentalität gebracht, die wir brauchen. Und Identität.“ Der Coach lobt Schweinsteigers Eigenschaften auf und neben dem Platz, natürlich habe der Neue dem Klub auch Aufmerksamkeit beschert. „Mit ihm finden wir uns jetzt auf der Weltkarte des Fußballs wieder“, so beschreibt es Paunovic.

Die Faszinationskraft Schweinsteigers, der vor einer Woche 33 wurde, geht über das Spiel hinaus. Viele Anhänger haben sich wegen ihm eine Dauerkarte gekauft. Gefühlt neun von zehn Fire-Fans tragen ein Trikot mit seinem Namen und der Nummer 31. Wer sie darauf anspricht, erfährt schnell, warum: Das ist doch der Typ, der im WM-Finale 2014 gegen Argentinien mit blutverschmiertem Gesicht rumlief und dessen Beine zuckten, als er seine Wunde am Seitenrand tackern ließ – Stoff, aus dem Helden sind.

Liebling der Anhänger

Für die Fans ist Schweinsteiger „der General, das Gehirn der Mannschaft. Alles geht über ihn.“ Ohne Schweinsteiger sei es „okay“ gewesen, aber mit ihm „viel besser“. Amerikaner lieben Statistik, und so machen sie einfach den Erfolg an ihm fest. Mit dem Sieg gegen New England festigte Chicago Fire Tabellenplatz zwei hinter dem Toronto FC. In den zwei Jahren zuvor beendete der Klub die Saison jeweils auf dem letzten Tabellenplatz. Mit Schweinsteiger gab es eine Serie von neun Spielen ohne Niederlage. Und jetzt das: vier oder mehr Tore in drei Heimspielen hintereinander. Vereinsrekord!

Die Frage eines Reporters, ob er mit Chicago Fire die WM gewinnen könne, lächelte Schweinsteiger bei seiner Vorstellung gekonnt weg. Er wusste ja, worauf er sich einlässt. Dafür kann er ohne Mütze und ohne Sonnenbrille auf die Straße gehen, ohne erkannt zu werden. In Chicago ist zudem die Work-Life-Balance eine andere. Kürzlich flog er mit seiner Frau Ana Ivanovic für einen Kurzurlaub nach Italien.

In den USA gehören Interviews in der Mannschaftskabine nach dem Spiel dazu. Es sieht so unaufgeräumt wie in einem Kinderzimmer aus. Leere Flaschen, Schuhe, Trikots, Handtücher. Es riecht nach Rasen, Schweiß und Duschgel. Schweinsteiger sitzt normalerweise etwas weiter links, ganz am Rand, neben ihm nur der Portugiese Joao Meira. Auf Schweinsteigers Stuhl steht CHICAGO, darunter stehen Turnschuhe und Badelatschen feinst säuberlich nebeneinander. Er hat das Stadion bereits verlassen. Wird Zeit, dass auch mal andere die Musik machen.