Wirtschaft

Der Kick für die E-Mobilität

Die Tübinger Firma Brakeforce One will mit einem weltweit einzigartigen Tretroller und anderen Neuheiten den Verkehr in den Städten verändern.

26.08.2017

Von Gernot Stegert

Ein kleiner Kick mit dem linken Fuß und der Roller beschleunigt mit einem Surren, als hätte der Fahrer schweißtreibend Schwung geholt. So leicht kann sich die Zukunft der Mobilität anfühlen. 25 Kilometer in der Stunde kann der elektrisch unterstützte Kickscooter (Tretroller) der Tübinger Firma Brakeforce One fahren. Auch die Tübinger Hügel erklimmt er. Ein Bremsgriff am Lenker rechts vermittelt das vom Rad vertraute Sicherheitsgefühl und löst eine hydraulische Scheibenbremse im Hinterrad aus. Sie wirkt besser als die übliche Tretbremse etwa bei einem Kinderroller, wie die Probefahrt des TAGBLATTS zeigt. Von außen sind keine Kabel zu sehen, doch in den Rohren und in dem Trittbrett ist viel Elektrik versteckt.

Auf der Eurobike-Messe in Friedrichshafen stellt Brakeforce One den Kickscooter „Flynn“ als Weltneuheit erstmals vor. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und das halbe Landeskabinett haben sich am Stand angekündigt, sagt Geschäftsführer Frank Stollenmaier. Er ist überzeugt, „dass der Roller der absolute Knaller wird“. Im dritten Quartal 2018 soll er in Serie gehen. Hunderttausende verkaufte Exemplare, ja eine Million kann sich Stollenmaier vorstellen. Auch dafür hat sich die erst 2010 gegründete Tübinger Firma Partner gesucht und kürzlich mit ZF Friedrichshafen, Magura und Unicorn Energy gefunden. So wird aus dem kleinen Entwickler in der Bismarkstraße 66 ein auch für die Großen der Branche ernst zu nehmender Akteur auf dem boomenden Markt der Elektromobilität.

Bisher ist Brakeforce One durch sein Antiblockiersystem (ABS) bei E-Bikes bekannt (wir berichteten). Die Tübinger wollen dieses im Frühjahr 2018 als erste weltweit auf den Markt bringen, noch vor Bosch im Herbst 2018. Mit ABS steigt niemand mehr über den Lenker ab und bricht das Rad hinten beim Bremsen nicht mehr aus.

Mit dem elektrischen Kickscooter steht die nächste Neuerung an. Mit ihm wollen die Tübinger den Verkehr in den Städten verändern. Das Schlagwort heißt Mikromobilität. Mit dem Roller sollen die Menschen die letzten zwei bis drei Kilometer auf dem Weg zur Arbeit zurücklegen und somit die Innenstädte von Autos und Abgasen entlasten. Dafür muss nicht allein das Produkt überzeugen. Durch große Räder, eine Lichtanlage und die hydraulische Scheibenbremse ist der Roller komfortabel und sicher fahrbar. Ein Display im Lenker versorgt den Fahrer mit allen wichtigen Daten. Aufladen lässt sich der Kickscooter einfach über einen USB-Anschluss im Trittbrett, der Akku kann sogar umgekehrt zum Aufladen des Handys benutzt werden. Unter 1000 Euro soll der „Flynn“ für den Endkunden kosten. Verschiedene Varianten sind vorgesehen.

Vor allem aber muss das Gewicht stimmen. Der „Flynn“ ist zusammenklappbar und leichter als alle Konkurrenzprodukte. 5,9 Kilogramm kann fast jeder tragen. Ein extra Rucksack wird angeboten. Damit ist der Roller einfach in Bus, Bahn und Auto zu transportieren, anders als ein Fahrrad. Er passt in ein Schließfach und kann mit ins Büro genommen und dort aufgeladen werden. Durch die schnelle Überbrückung der kurzen Distanzen wird der individuelle Straßenverkehr entlastet und der öffentliche Personennahverkehr gestärkt. Wer wie wo damit in Deutschland fahren darf, ist noch offen. Gesetzliche Rahmenbedingungen für diesen neuen Fahrzeugtyp werden derzeit entwickelt.

„Flynn“ ist auch ein interessantes kleines Kapitel Wirtschaftsgeschichte. Entwickelt hat ihn ein Dreierteam bei Bosch in der Start-up-Tochter Urbanmates. Doch das Großunternehmen gab den Tüftlern Marc Zimmermann, Marie-Theres Günther und Alexander Buddrick keine Chance. Der Beirat der Robert Bosch Start-up GmbH fällte im März 2017 die „strategische Entscheidung, nicht Fahrzeughersteller in der Mikromobilität zu werden“. So heißt es in einer Bosch-internen Mitteilung vom 30. Mai, die dem TAGBLATT vorliegt. Stollenmaier dagegen, bereits Entwicklungspartner, glaubte an den Roller und die Mitarbeiter. Er kaufte Urbanmates zum 1. Mai. Den Preis verrät er nicht, aber „in Relation zum erwarteten Verkauf war es ein Schnäppchen“. Könnte also sein, dass die Verantwortlichen bei Bosch ihre Entscheidung bereuen werden.

Brakeforce One wächst jedenfalls weiter. Noch sind es 33 Mitarbeiter, ab 1. Oktober werden es bereits 46 sein, kündigt Stollenmaier an. Auch sucht das Unternehmen weiterhin Gewerbefläche, um die Fertigung von Kleinserien von Mühlacker nach Tübingen zu holen. Gelänge das, würden die Tüftler noch etwas gerne in und mit der Unistadt machen: Zukunftsmodelle des Verkehrs ausprobieren. Schwarzkopf sagt: „Mein großer Traum ist es, an einem Mobilitätskonzept einer Stadt mitzuarbeiten.“

Mehr als Fahrrad: Auf dem Weg zur Mobilität 4.0

Auch weitere Entwicklungen von Brakeforce One und den Partnern könnten der E-Mobilität mit zum Durchbruch verhelfen. Beispielsweise ein Elektro-Motor für E-Bikes, der kleiner und leistungsfähiger sein soll als die Motoren auf dem Markt; oder ein Acht-Gang-Automatik-Getriebe, das schon 2018 serienreif sein soll. Motor und Getriebe seien in einer Einheit, erklärt Stollenmaier. Das spare Platz und Wartungen. Brakeforce One entwickelt immer leistungsstärkere Antriebe, die in absehbarer Zeit auch für drei- und vierrädrige Fahrzeuge interessant sein können.

Schon jetzt gehen die Aktivitäten der Tochter „BFO Mobility“ über Zweiräder hinaus. Geschäftsführer Stefan Schwarzkopf zählt auf:

Live-Tracking durch GPS-Signale. Der Sender kann in einem Rad, Roller, aber auch im Ranzen eines Schulkinds oder Reisekoffer sein.

Diebstahlschutz mit Abschaltfunktion. Ein E-Bike wird aus der Ferne gestoppt.

SOS-Funktion: Ein Sensor erkennt einen Unfall und sendet eine SMS.

Service: Daten beispielsweise über ein Verschleißteil eines E-Bikes können in eine Cloud übermittelt werden und von dort an den Halter („Achtung erneuern!“) und eine Werkstatt („Ersatzteil bestellen!“) gesendet werden. Über Magura habe BFO den Zugang zu 18000 Werkstätten europaweit,

Bei der Tochter für Entwicklungsdienstleistungen gilt wie für BFO insgesamt Stollenmaiers Philosophie: „Wir wollen offene Standards schaffen.“ Sprich: anschlussfähig auch im Wortsinn für unterschiedliche Hersteller sein. Das halten Stollenmaier und Schwarzkopf für gesellschaftlich wichtig, um die E-Mobilität zu fördern. Das ist aber auch Geschäftspolitik: „Jeder soll sich andocken können“, sagt Schwarzkopf. Nur so seien große Mengen an Daten zu erreichen. Bei der Verarbeitung haben die Tübinger auch Hilfe: das ZF Tochterunternehmen Double Slash mit leistungsfähigen Servern.

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Erstellt:
26.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 01sec
zuletzt aktualisiert: 26.08.2017, 01:00 Uhr

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Kai-Hendrik 31.08.201707:18 Uhr

sicherlich ein interessantes Projekt. In Singapur gehören solche Roller zum festen Straßenbild. Allerdings sind wir in Deutschland, und hier gibt es doch immer irgendwelche Vorschriften, die jeden noch so gut gemeinten Ansatz zu behindern wissen.

In sämtlichen Zeitungsartikeln über diesen neuen FLYNN Roller finde ich kein einziges Wort darüber, ob der Roller eine StVZO Zulassung hat oder nicht????!!!! Mir sind bisher kaum vergleichbare Roller MIT einer solchen Zulassung bekannt. Wer wird schon 1000 € ausgeben, um das Teil dann nur auf der eigenen Garagenauffahrt benutzen zu dürfen....

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