50 Jahre danach: Hans Tilkowski, der deutsche Torwart, trägt den legendären Gegentreffer bis heute mit wahrer Größe

Der Hüter des Wembley-Tores bleibt cool

Drin oder nicht: Über das 3:2 im WM-Endspiel des Jahres 1966 – England gegen Deutschland – lässt sich auch fünf Jahrzehnte später noch ausgiebig streiten.

30.07.2016

Von RAIMUND HINKO

Das legendäre Wembley-Tor im WM-Finale 1966: Der vom englischen Stürmer Geoff Hurst (nicht im Bild) geschossene Ball knallt von der Latte auf den Boden. Deutschlands Torhüter Hans Tilkowski schaut sich im Hechten um. Foto: dpa

Das legendäre Wembley-Tor im WM-Finale 1966: Der vom englischen Stürmer Geoff Hurst (nicht im Bild) geschossene Ball knallt von der Latte auf den Boden. Deutschlands Torhüter Hans Tilkowski schaut sich im Hechten um. Foto: dpa

Dortmund. Wenn sich am Montag die Helden von 1966 – nennen wir sie ruhig Helden und nicht Vizeweltmeister – im Dortmunder DFB-Museum treffen, dann gehen erst mal Hans Tilkowski und Uwe Seeler aufeinander zu.

Mittelstürmer Uwe Seeler – in gebückter Haltung, wie nach dem WM-Finale, als sich die Engländer den 4:2-Sieg ergaunerten dank des dritten Tores, das keines war – sagt dann laut lachend zu Torwart Tilkowski: „Na, schon wieder geschrumpft?“ Und Tilkowski kontert: „Deine 1,69 Meter, wie in den Archiven steht, stimmen doch auch längst nicht mehr.“ Dann werden sich die beiden umarmen. Und Seeler sagt: „Gott sei Dank warst du 1966 noch 1,84 Meter groß. Sonst wäre der Ball wirklich drin gewesen.“

Seeler meint jene 101. Spielminute, als Geoff Hurst einen Schritt schneller ist als Willi Schulz („Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“), den Ball aufs Tor hämmert. Tilkowski, drei Meter vor der Linie stehend, reißt beide Arme hoch, lenkt den Ball mit den Fingerspitzen an die Latte. Und von dort springt er auf die Linie, was die weiße Kreidewolke beweist, die nach oben steigt. Doch der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entscheidet nach Befragung des russischen Linienrichters Tofir Bachramov auf Tor.

„Ja, der Uwe hat recht“, sagt Tilkowski 50 Jahre später im Gespräch mit der SÜDWEST PRESSE. „Heute hätte ich keine Chance mehr an den Ball zu kommen. Ich bin acht Zentimeter geschrumpft, nur noch 1,76 Meter groß. Zu klein also für den Schuss von Hurst.“ Und dann erzählt er feixend: „Die anderen müssen sich neue Hüften einsetzen lassen, neue Kniegelenke. Bei mir fehlt mit 81 Jahren kein Stück Knorpel. Das spricht für mein hervorragendes Stellungsspiel. Ich musste nie viel laufen, stand immer richtig.“

Tilkowski verschweigt, dass ihm die Bandscheiben ziemlich schmerzen („Die liegen jetzt ganz nah nebeneinander, weil die Flüssigkeit der acht Zentimeter fehlt“), dass er vor Jahren locker Blasenkrebs und eine Bypass-Operation am Herzen wegsteckte. „Die Bandscheiben lasse ich mir frühestens mit 102 operieren.“

Dieser Mann ist mit 81 voller Lebenskraft, obwohl er seit vielen Jahren im Mittelpunkt steht. Genau seit dem ominösen dritten Tor von Wembley 1966. Weil nur er es gesehen hat, als er rückwärts schaute, dass der Ball „nicht im Tor war“. Hurst – „der lag ja auf dem Boden“ – konnte es nicht sehen, Schulz auch nicht.

Tilkowski macht kein großes Aufheben, auch nicht um sein einzigartiges Engagement. Seit vielen Jahren lebt er die Integration von Migranten vor, wenn er in der evangelischen Gemeinschaftshauptschule seines Wohnorts Herne Mädchen und Jungs aus 31 Nationen betreut. Wenn er seit 13 Jahren als Botschafter für das „Friedensdorf“ in Oberhausen/Dinslaken Geld sammelt, damit Schwerkranke mit Sonderflugzeugen aus Kriegsgebieten eingeflogen und auf Krankenhäusern des Ruhrgebiets verteilt werden. Regelmäßig ist er auf der Palliativstation des Krankenhauses Herne zu finden. Oder im Hans-Tilkowski-Haus, einer Kaderschmiede für Fußball und Leichtathletik in der Sportschule Kaiserau, wo er auch gerne sein Buch („Und ewig fällt das Wembley-Tor“) verteilt. Selbst Königin Silvia von Schweden kam angereist, um eine Spende aus Tilkowskis Händen entgegenzunehmen.

Aus der Ruhe zu bringen ist der ehemalige Nationaltorwart, Star von Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt, Trainer von Werder Bremen, 1860 München und dem 1. FC Nürnberg, nur dann, wenn Schlaumeier einwenden: „Die Engländer haben doch 4:2 gewonnen, was wollt ihr dann mit dem dritten Tor?“ Denen hält er entgegen: „Weil wir alle Mann nach vorne warfen. Und weil jubelnde englische Zuschauer auf dem Feld rumrannten, vor denen wir Angst hatten, kam Hurst allein auf mich zu. Der Schiedsrichter hätte das Spiel abbrechen müssen.“

Vor wenigen Tagen reiste Tilkowski mit Reportern der Fachzeitschrift Sport-Bild zu Hurst ins Wembley-Stadion. Es kam zu rührenden Versöhnungsszenen. Hurst küsste Tilkowski auf die Wange. Beide blieben allerdings bei ihrer Version: „Tor“ bzw. „kein Tor.“ „Was hätte Hurst auch anderes sagen sollen“, meint Tilkowski. Entspannt bis gelassen zeigt der Hüter des Wembley-Tores bis heute seine wahre Größe.

Zum Artikel

Erstellt:
30.07.2016, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 30.07.2016, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport