Übrigens über ein Arschlochjahr, das vielleicht gar keins war

Das schlimme Jahr mit den Schuhen im Treppenhaus

16.01.2017

Von Ulrich Janßen

Das erste, was ihr auffiel, waren die Schuhe im Treppenhaus. Vier Paar standen vor der Tür. „Ihr lasst Schuhe vor der Wohnung stehen?“, staunte sie. „Bei uns wären die sofort weg.“

Dann wunderte sie sich, dass wir die Tür zum Hausflur nachts nicht abschließen. „Wäre bei uns unmöglich“, sagt sie. „Viel zu riskant.“ Und dass die Polizei tatsächlich kommt, wenn man sie ruft: Auch das hat Zeeh daheim noch nie erlebt.

Zeeh lebt in einem Township in der südafrikanischen Stadt Durban. Gerade wohnt sie bei uns, sie ist für drei Wochen Gaststudentin in Tübingen. „Push yourself because no one else will do it for you“, steht auf ihrem Handy. In ihrer Familie ist sie die einzige, die eine Uni besucht, die einzige, die jemals das Land verlassen hat, jemals in einem Flugzeug saß.

Für jemanden, der in Deutschland lebt, in diesem von Flüchtlingen, Terroristen und Rechtsextremen, von Service-Hotlines, Bahnverspätungen, Fake News und Buchsbaumzünslern gepeinigten Land, sind Menschen wie Zeeh einigermaßen irritierend. Erlebten wir nicht gerade eines der schlimmsten Jahre unserer Geschichte? 2016, das „Arschlochjahr“, wie es überall hieß (auch bei uns in den Medien natürlich)?

Zeeh findet nichts schlimm in Deutschland. Hier kommt 24 Stunden am Tag Strom aus der Steckdose. Hier kann sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein zu Fuß von einem Ort zum anderen gehen. Sie kann mit einem Bus zur Uni fahren, der sich an einen Fahrplan hält. Und die Autofahrer, die ihr begegnen, halten sogar nachts vor roten Ampeln an. Da wo Zeeh lebt, bekommt man seinen Führerschein nicht, weil man Auto fahren kann, sondern, weil man dem Prüfer zur richtigen Zeit den richtigen Betrag übergibt.

Nicht nur Fahrprüfer nehmen Bestechungsgeld. Praktisch alle Politiker sind korrupt, sagt sie. Der Präsident hat sich auf Kosten der Steuerzahler eine riesige Villa bauen lassen. Und selbst kleine Amtsleiter lassen sich in teuren BMWs herumfahren. Dass Tübingens Oberbürgermeister mit dem Fahrrad zu Terminen fährt, kann sie kaum glauben.

Südafrika hat riesige Probleme. Es gibt wenige Reiche, viele Arme und jede Menge Flüchtlinge, um die sich niemand kümmert. Mit der Wirtschaft geht es bergab. Und die Rate an Morden und Vergewaltigungen zählt zu den höchsten auf der Welt. Trotzdem liebt Zeeh ihr Land. Weil es so schön ist und die Leute so freundlich, so warmherzig und hilfsbereit sind.

In Südafrika, sagt Zeeh, war 2016 kein Arschlochjahr. In Südafrika war 2016 so anstrengend und so gefährlich, so traurig und so fröhlich wie jedes andere Jahr.

Und bei uns? Trump, Erdogan, Brexit und der IS sind nicht spaßig, keine Frage. 2016 ist einiges passiert, das Sorgen macht. Aber zumindest in Tübingen hat man auch 2016 noch ausgiebig über Radler, Feuerwehrkneipen, Nicknegerle und ein Flüchtlingsheim auf einer Wiese streiten können.

So schlimm war das Jahr vielleicht doch nicht.

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Erstellt:
16.01.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 29sec
zuletzt aktualisiert: 16.01.2017, 01:00 Uhr

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