Wer ist wer – und wenn ja wie viele?

Das Reutlinger Theater in der Tonne verwirrt sein Sommertheater-Publikum mit einem reichlich schizop

„Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ – all das und viel mehr gibt’s jetzt beim Reutlinger Tonne-Sommertheater. Die Premiere im Spitalhof am Donnerstag wurde wegen der Fußball-EM zwei Stunden vorverlegt und war nicht ganz ausverkauft.

09.07.2016

Von Matthias Reichert

Das Reutlinger Theater in der Tonne verwirrt sein Sommertheater-Publikum mit einem reichlich schizop

Reutlingen. Teufels-, Schulmeister- sowie Literatursatire – und ein Abgesang auf alle hehren Ideale der klassisch-romantischen Kunstperiode: Als Christian Dietrich Grabbe das Stück 1827 veröffentlichte, eckte er ziemlich an. Wie aktualisiert man nun so ein Stück, das bezeichnenderweise seit 2005 auf keiner deutschen Bühne mehr gespielt wurde? Mit Jux und Tollerei, mag sich Jan Mixsa gedacht haben.

Und als Theater im Theater, das ist der Clou seiner Bearbeitung. Die sechs Schauspieler/innen wechseln in gefühlt 22 Rollen, streiten sich, wer wen spielt – alle drei Frauen zugleich die einzige Frauenrolle, zuletzt sogar ein Mann als Frau (Oliver Kube chargiert nach Herzenslust wie bei Monty Python’s). Und die blendend aufgelegte Agnes Lampkin gibt den Nietzsche-Walrossbart des Schulmeisters im zweiten Teil an Carla Weingarten ab, die zu großer Form aufläuft und den Teufel resolut mit einem Kreuz bannt.

Die Hauptfigur ist natürlich dieser Teufel, den seine Großmutter auf die Erde geschickt hat, weil in der Hölle gerade Großputz ist. Thomas B. Hoffmann zieht mit Schwefeldampf alle Register, frisst gleichsam glühende Kohlen. Schmid Konrad (Chrysi Taoussanis mit Rauschebart) beschlägt seinen Pferdefuß, von dem das Hufeisen abgegangen ist.

Dazu ein Lied, zwo, drei, vier. Die Handlung ist in diesem Mummenschanz eher zweitrangig. Am Anfang zieht das Ensemble als paukende und trötende Lumpenkapelle ein. Surreal ausstaffierte Naturforscher finden den Teufel, der im Hochsommer fast erfroren ist. Sie bringen ihn zum Baron, bei dessen Tochter Liddy sich die Freier die Klinke in die Hand geben.

Der Teufel will Liddy dem Freiherrn von Mordax zuschustern (wieder die Taoussanis, diesmal als eine Art Rockstar) und lässt Mordax dafür 12 Politiker umbringen. Das tut der Freiherr, indem er leere Flaschen mit drolligen Etiketten entsorgt – etwa AfD („Abteilung für Dumme“).

Ja, es gibt aktuelle Anspielungen, auch auf Griechenland und die Kanzlerin. Und spärliche Reutlinger Bezüge in einem biederen Eingangs-Liedchen. Es gibt sogar einen Reim auf Sonnenbühl und Willmandingen. Alles ziemlich platt, wir unterstellen Absicht.

Der Regisseur will Grabbe als „angewandte Schizophrenie“ inszenieren. Das Publikum wird ebenfalls als gespalten geoutet. Nur der Techniker ist manisch-depressiv – und rächt sich mit nervenden Brumm-Geräuschen. Mixsa hat das Stück skurril ausgestattet: Tragende Rollen spielen neben Leitern zwei senkrecht aufgestellten Blechwannen, in denen sich die Akteure selbst aufhängen wollen, wenn sie im Trinkgelage die Sinnlosigkeit des Daseins entdecken. Und wer gerade die Liddy spielt, hüllt sich in reichlich roten Tüll, der von den Kulissen hängt.

Noch eine Hauptfigur ist der arme Poet Rattengift, den Michael Schneider spielt. Der erfährt, dass Homer in der Hölle Elke Heidenreich geheiratet hat und die Verdammten „Junge Welt“ lesen müssen. Es gibt einen Seitenhieb auf den türkischen Präsidenten, dessen Namen man nicht reimen darf, weil er keinen Spaß versteht. Schneider macht Musik mit Ukulele, Geige und Banjo – und räumt als Running Gag das Equipment weg.

Bis zum finalen

Kasperltheater

Die Rollen wechseln schneller, als das Publikum mitkommt. Es geht vermutlich gut aus, am Ende bekommt die Liddy der sieche Herr Mollfels (wer hat den jetzt gleich gespielt? Ach ja, eine Frau). Die Großmutter holt den Teufel in die Hölle zurück, begleitet vom Kaiser Nero. Den spielt wiederum eine Handpuppe. Und die Freier, die Liddy in einen Hinterhalt locken, werden mit Kasperlpuppe an frühkindliche Traumata erinnert und so außer Gefecht gesetzt. Thomas Manns „Zauberberg“ muss als Schlafmittel herhalten und wird am Ende lustvoll zerfetzt. Zum Schluss kommt Dichter Grabbe vermummt selbst auf die Bühne. Im Originalstück hat er nur einen Satz, hier hält er (vermutlich gespielt von Lampkin) einen donnernden Abgesang auf das Bildungswesen. Sucht nur, die Leute zu verwirren – zumindest das ist Mixsa blendend gelungen.

Info: Die nächste von 16 Aufführungen ist am heutigen Samstag, 20 Uhr. Die Vorstellung am Sonntag wurde abgesagt – weiter geht’s am Mittwoch, 13. Juli – bei gutem Wetter draußen im Spitalhof, bei Regen in der Planie 22. Telefon-Info zwei Stunden vorher unter 07 121/93 770.

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Erstellt:
09.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 03sec
zuletzt aktualisiert: 09.07.2016, 01:00 Uhr

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