Tod durch Unterlassen

"Das Mädchen" stört: Wie die deutsche Regierung den Mord an Elisabeth Käsemann in Kauf nahm

Am 24. Mai 1977 wurde die aus Tübingen stammende Elisabeth Käsemann von Schergen der argentinischen Militärdiktatur ermordet. Wahrscheinlich würde sie noch leben, wenn die Bundesregierung unter Helmut Schmidt nicht die Hände in den Schoß gelegt hätte – so die Quintessenz des Dokumentarfilms „Das Mädchen“, der am Freitag, 27. März, um 18 Uhr im Rottenburger Waldhorn-Kino gezeigt wird.

19.03.2015

Von Klaus-Peter Eichele

Elisabeth Käsemann in den siebziger Jahren.

Elisabeth Käsemann in den siebziger Jahren.

Vor drei Jahren wurden die noch lebenden Verantwortlichen für Käsemanns Tod in Buenos Aires zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nebenkläger in dem Prozess war die Bundesrepublik Deutschland – dabei wäre der deutsche Staat auf der Anklagebank womöglich besser aufgehoben gewesen. Denn wie der mehrfache Grimme-Preisträger Eric Friedler in seinem Film überzeugend darlegt, unternahm das Auswärtige Amt so gut wie nichts, um Käsemanns Leben zu retten. In der deutschen Botschaft in Buenos Aires übernahm man an die von der Militärdiktatur verbreitete Lüge, die Tochter des Theologen Ernst Käsemann sei eine Terroristin – und deswegen selber schuld an ihrem Schicksal. Diese Meinung vertrat der damalige Botschafter Jörg Kastl, ein strammer Antikommunist, noch vor wenigen Monaten in einem Interview mit Friedler. Kastls Lageberichte, in denen das argentinische Mordregime zum Bollwerk gegen die Anarchie geadelt wurde, stießen in Deutschland, wo gerade die RAF am Wüten war, auf offene Ohren. Auf Käsemanns Beisetzung in Lustnau war die Polizei mit Filmkameras präsent.

Dabei lehnte die auf Fotos fast immer fröhlich blickende Frau nach Auskünften ihrer Freunde und Bekannten Gewalt als politisches Mittel ab. 1968 war die in der Studentenbewegung politisch sozialisierte Tübingerin nach Südamerika gegangen, um sich gegen Armut und Ungerechtigkeit zu engagieren. In Buenos Aires betreute sie parallel zu ihrem Studium ein Sozialprojekt in einem Slum. Nachdem sich 1976 das Militär an die Macht geputscht und damit begonnen hatte, wahllos "Subversive" zu verhaften und zu ermorden, fälschte sie Pässe, um Regimegegnern die Flucht zu ermöglichen – und geriet dadurch selbst ins Visier der Schlächter. Am 8. März 1977 wurde Käsemann verhaftet und kurz darauf in das berüchtigte Folterzentrum El Vesubio am Stadtrand von Buenos Aires gebracht. Nach wochenlangen Misshandlungen, die im Film auch einer ihrer Folterer bezeugt, wurde sie am 24. Mai durch Schüsse ins Genick und in den Rücken getötet.

Zwei Tage nach Käsemann wurde auch ihre beste Freundin, die Britin Diana Austin, verschleppt, gefoltert und vergewaltigt – und kam wenig später nach energischer Intervention der britischen Regierung frei. Ähnliches Glück im Elend hatten französische und spanische Staatsbürger, die verhaftet worden waren. Das Auswärtige Amt unternahm, abgesehen von zahmen Protestnoten, dagegen nichts. Dabei wusste die Behörde nach Austins Aussage genau Bescheid, dass Käsemann noch am Leben war und wo sie gefangen gehalten wurde. Selbst das halboffizielle Angebot, sie gegen Geld freizulassen, wurde ignoriert.

Was hinter dieser Untätigkeit steckte, versucht Regisseur Friedler den damaligen Staatsministern Hildegard Hamm-Brücher (FDP) und Klaus von Dohnanyi (SPD) zu entlocken (zu einem bereits zugesagten Interview mit Ex-Außenminister Genscher kam es nicht). Beiden ist die Sache im Rückblick sichtlich unangenehm, plausibel erklären können oder wollen sie ihr Verhalten jedoch nicht. Eine sehr peinliche Figur macht im Film Hamm-Brücher, der man glauben soll, sie sei damals eine Art Praktikantin ohne jeden Einfluss gewesen – und nicht die Nummer zwei im Ministerium. Dohnanyi lässt immerhin durchblicken, dass das Interesse der deutschen Industrie an guten Geschäften mit den Diktatoren absoluten Vorrang hatte - und "das Mädchen" (Genscher) dabei ein Störfaktor war. Leider verfolgt Friedler diese Spur in die Wirtschaft nicht weiter.

Umso ausführlicher widmet sich der Regisseur dem Versagen eines anderen mächtigen Akteurs, des Deutschen Fußball-Bunds (DFB). Ein Jahr vor der Fußball-WM war Argentinien an dieser Flanke sehr verletzlich, eine Boykott-Drohung hätte im Fall Käsemann womöglich Wunder gewirkt. Doch DFB-Chef Hermann Neuberger zog nicht einmal die Absage des für den 5. Juni 1977 angesetzten Freundschaftsspiels in Buenos Aires in Erwägung. Als an diesem Tag die Nachricht vom Tod Elisabeth Käsemanns in der deutschen Botschaft einlief, wurde die Bekanntgabe um einen Tag verschoben – um den Fußball-Fans die Stimmung nicht zu vermiesen.

Wenn im Film jetzt ehemalige Nationalspieler wie Karl-Heinz Rummenigge, Sepp Maier und Paul Breitner lang und breit über den DFB herziehen, wirkt das allerdings scheinheilig. 1977/78 bekam keiner dieser damals auch schon erwachsenen Männer den Mund auf - nicht für Elisabeth Käsemann und nicht für die anderen 30000 Opfer der argentinischen Militärdiktatur.

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Erstellt:
19.03.2015, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 09sec
zuletzt aktualisiert: 19.03.2015, 12:00 Uhr

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