Gutenachtgeschichte

Das Glück ist keine Dauerwurst

In Ofterdingen nahmen gestern Friederike und Andreas Zilles auf dem TAGBLATT-Lesesessel Platz. Davor und dazwischen sang Musiker Benjamin Strohmaier solo am elektrischen Klavier.

08.08.2017

Von Michael Sturm

Friederike Zilles las gestern in Ofterdingen einen Auszug aus Elena Ferrantes Saga „Meine geniale Freundin.“ Bild: Rippmann

Friederike Zilles las gestern in Ofterdingen einen Auszug aus Elena Ferrantes Saga „Meine geniale Freundin.“ Bild: Rippmann

Unter voller Sonne Gutenachtgeschichten lesen? Das wäre schon seltsam. Gestern um sieben Uhr Abends sandte das Zentralgestirn noch helle Strahlen auf den Platz zwischen der Ofterdinger Kirche und der Ortsbücherei hinunter, wo gut 160 Zuhörer Platz genommen hatten. Doch Moderator Jürgen Jonas redete zum Einstieg einfach so lange, bis die Sonne hinter einem Nachbargebäude verschwunden war – und die Atmosphäre damit absolut stimmig .

Es dürfte einige Zuhörer geben, die speziell die Termine im Steinlachtal besuchen, um die Moderation von Jonas zu erleben, der die TAGBLATT-Gutenachtgeschichte dort seit rund 20 Jahren begleitet. Wie so oft nahm er zunächst Bezug auf das Datum: 7. August, Geburtstag von Joachim Ringelnatz, Namenstag von Albert und Juliane –aber keine von der Sorte im Publikum, schade. Die hätten ein kleines Geschenk erhalten. Jonas’ Dank ging an die Veranstalter von der Bücherei um Susanne Freudemann und Ursel Möck, sowie, im Namen des Montags, ans Publikum, mit anschließender Lobhudelei: „Woanders sag‘ ich immer: Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Ofterdingern! Die zeigen immer ein besonderes Durchhaltevermögen!“

Welches er weiter aufs Köstliche strapazierte, denn Jonas fuhr unbeirrt fort. Er wies auf den hiesigen Bücherflohmarkt hin („der Ergiebigste weit und breit“). Er bedankte sich bei der Walkinggruppe für die Bewirtung, um allerdings einzuschränken: „Was nutzt einem die Gesundheit, wenn man ein Idiot ist.“ Schließlich wandte er sich dem Lesesessel zu. Ein TAGBLATT-Redakteur habe das Stück einst für 25 Euro auf dem Flohmarkt erstanden, es sei nun „eines der spirituellen Kraftzentren des Landkreises“.

Und genau da nahm dann Friederike Zilles Platz, in Ofterdingen als Jugendpflegerin und Schulsozialarbeiterin bekannt. Sie las aus der napolitanischen Familiensaga, „Meine geniale Freundin“, deren Autorin (oder doch Autor?) sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante versteckt, was Leser weit über Italien hinaus in Atem hält.

Es geht um mehr als eine 60 Jahre während Freundschaft zwischen Ich-Erzählerin Elena und Lila, die eines Tages verschwindet. Elena, die mittlerweile in Turin lebt, erkennt dahinter einen Plan ihrer Freundin, den sie zu durchkreuzen versucht. Die Szenerie ist das alte Neapel , die Zutaten sind Familientragödien, Liebeszerwürfnisse, Mord, Totschlag und Gewalt, Trennungen, Treuebekenntnisse und Verrat. Und die Camorra. Friederike Zilles las aus den Anfangspassagen, als sich die beiden Mädchen als Kinder begegneten – man hätte länger zuhören können.

Musiker Benjamin Steinhilber nahm sein Programm auf, nachdem auch wirklich der letzte Glockenschlag von der Ofterdinger Kirchturmuhr verhallt war. Viel Applaus erhielt er für Balladen wie Lionel Richies „Easy“ oder Elton Johns „Don‘t let the sun go down on me.“ Nachdem Jürgen Jonas erläutert hatte, wie einst das Telefon nach Ofterdingen kam, setzte sich Andreas Zilles in den Lesesessel, der, wie seine Frau, in der Schulsozialarbeit tätig ist. Er hatte vier stilistisch verschiedene Kuzgeschichten dabei und begann mit Erich Kästners „Märchen vom Glück“: Ein Mann hat den letzten drei seiner Wünsche über 40 Jahre nicht eingelöst, denn „das Glück ist ja keine Dauerwurst, von der man sich täglich eine Scheibe abschneiden kann.“ Wie wahr.

In ihrem Kurzkrimi „Das Nasenspray“ greift Ingrid Noll ein altes Thema auf: Aus der Nähe eines Paares wrd Entfremdung, hier ausgelöst durch das Schnarchen der Frau. Er nörgelt, sie bleibt immer öfter abends länger weg. Er wird eifersüchtig und macht sich selbst an eine Freundin seiner Frau heran, die er wiederum mit Hilfe eines Nasensprays umzubringen gedenkt. Am Ende wartet eine schön böse Pointe.

In „Ein Mensch mit Namen Ziegler“ zeichnet Hermann Hesse einen Mann, der sich eine Pille aneignet, durch die er die Tiere versteht: Sie beschimpfen ihn, denn sie verachten die Menschen. Ziegler schämt sich so sehr, dass er seine Bekleidung abwirft – und im Irrenhaus landet.

Maxim Gorkis „Der Philosoph“ ist wiederum eine Parabel über die Wahrnehmung eines Individuums in der Gesellschaft. Ein junger Mann weiß, dass er hässlich ist. Aufgrund seiner Belesenheit wird er jedoch Professor. Bei seiner Beerdigung heißt es, er sei ein Pessimist gewesen. Einer seiner Studenten, ein armer Schlucker, schmaust beim Totenmahl vorzüglich und denkt sich: „Auch Pessimismus kann Vorteile bringen.“

Am Ende des Abends, zwischendurch waren Hüte herum gegangen, kamen 378, 42 Euro für die Bücherei zusammen. Am Donnerstag macht die Gutenachtgeschichte in Nehren Station.

Das Glück ist keine Dauerwurst

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Erstellt:
08.08.2017, 20:09 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 13sec
zuletzt aktualisiert: 08.08.2017, 20:09 Uhr

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