Spannender Fund bei Tübinger Rathaus-Sanierung
Das Geheimnis der alten Münzen
Mit der Instandsetzung des historischen Dachreiters ist die Generalüberholung von Tübingens Schmuckstück am Marktplatz vollendet. Historiker förderten dabei Spannendes zu Tage.
Die strahlende Dezembersonne bringt ihr Werk zum Glänzen: Bevor am Donnerstag das letzte Gerüst am Rathaus abgebaut wird, trägt Restauratorin Ariane Brückel Blattgold mit 23¾ Karat auf den „Rathausknopf“ unter der Wetterfahne auf. Brückels Arbeitsplatz ist der höchste Punkt des nun vollständig restaurierten Tübinger Rathauses – 35 Meter über dem Marktplatz.
Die ältesten Teile des Dachreiters stammen vermutlich aus dem Jahr 1511, die Hälfte der historischen Holzkonstruktion wurde jüngst ersetzt. Auch wenn seine Wiederherstellung die 11-Millionen-Generalüberholung des Rathauses um 200 000 Euro teurer werden ließ und den Zeitrahmen um ein halbes Jahr dehnte: „Es war höchste Zeit“, so Oberbürgermeister Boris Palmer. „Gut, dass wir nochmal genau hingeschaut haben.“ Denn einige der uralten Holzbalken waren so lädiert, dass der Aufbau wohl nicht mehr allzu lang durchgehalten hätte. Zuständig für die Zimmerei- und hölzernen Restaurationsarbeiten war die Tübinger Firma Holzwerk. „Das war der schwierigste Teil“, sagt Tobias Kienzle vom städtischen Hochbauamt. „Die haben einen tollen Job gemacht.“
Rathausknopf wird jene Kugel aus Kupferblech oben auf dem Dachreiter genannt. In ihr befindet sich ein zylinderförmiger Behälter mit zeitgeschichtlichen Dokumenten. Das Blechschild im Innern der Kapsel (Bild unten) trägt die Aufschrift: „Mornhinweg – Flaschner – 1877“. Diese „Zeitkapsel“ wurde zuletzt 1877, ein Jahr nach der damaligen großen Rathaussanierung, von Oberbürgermeister Julius Gös befüllt. Weil im Lauf der Jahre Wasser in die Zeitkapsel eingedrungen war, mussten Stadtarchivar Udo Rauch und sein Team den reichlich ramponierten Inhalt restaurieren – darunter eine Liste der damaligen Gemeinderäte, die Schilderung einer Serie von Bränden in Tübingen 1876/77, Rathausfotos vor und nach der Sanierung, die Sonderausgabe einer Zeitung zur Enthüllung des Uhland-Denkmals 1873 sowie Münzen aus verschiedenen deutschen Ländern, die vor der Einführung der Mark 1876 gültig waren.
Rauch vermutet, dass Kupferschmied Ferdinand Friedrich Haug, der die Münzen in die Kapsel eingelegt hat, nicht sehr begeistert vom neuen Deutschen Reich war – so wie viele Tübinger. „Der Riss ging durch die Stadtgesellschaft“, so Rauch. Nicht alle wollten den neuen Staat unter preußischer Führung mit einem hohenzollerischen Erbkaiser begründen. Schon Ludwig Uhland hatte 1849 in der Frankfurter Paulskirche seine Rede gegen das Erbkaisertum gehalten. Diese Rede druckte die Zeitung 1873 anlässlich der Enthüllung des Uhland-Denkmals nach. Und genau diese Rede legte der Kupferschmied den Münzen bei. Rauch: „Eine Art stiller Protest, eine Botschaft an die Zukunft?“
Nun ist die Zeitkapsel unter der Wetterfahne wieder wasserdicht, der Rathausknopf erstrahlt in altem Kupfer- und neuem Gold-Glanz. 139 Jahre nach der ersten Befüllung wurde die Kapsel von Gös-Nachfolger Palmer neu bestückt. Zu den Dingen, die der Nachwelt überliefert werden, gehören eine DVD mit einem Film zur Stadtgeschichte, ein USB-Stick mit dem Verwaltungsbericht 2007 bis 2014, Materialien zur Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau“ samt Foto vom Ausflug zum Eisbärbaby Wilbär 2008, Schirmmütze und Faltblättern, ein Satz Euro-Münzen, darunter welche aus den Partnerstädten Aix-en-Provence und Perugia, eine Autogrammkarte von OB Boris Palmer – und die TAGBLATT-Ausgabe vom 29. Oktober 2016 – mit einem Bericht über die Besetzung der „Wielandshöhe“ in der Stauffenbergstraße.