Teilhabe für alle · Vom Rand ins Becken

Dagmar Müller macht viel Wirbel, damit in Tübingen alle Kinder schwimmen lernen können

Sie weiß, wie man Menschen für etwas begeistert: Dagmar Müller, 65, war bis zu ihrem Ruhestand führend im Marketing bei der Weltfirma IBM tätig, zuletzt in Costa Rica. Seit nun gut zweieinhalb Jahren wirbelt sie in Tübingen, um die Situation von Kindern zu verbessern, für die gesellschaftliche Teilhabe nicht selbstverständlich ist, weil den Eltern das Geld fehlt.

24.06.2017

Von Uschi Hahn

Partner am Beckenrand: Ruzbeh Abbaspur (links) mit Lehrmeister Kilian Wieczorek. Sie demonstrieren mit einem Schaumstoffbrett, wie man richtig krault. Bild: Faden

Partner am Beckenrand: Ruzbeh Abbaspur (links) mit Lehrmeister Kilian Wieczorek. Sie demonstrieren mit einem Schaumstoffbrett, wie man richtig krault. Bild: Faden

Schon bevor Dagmar Müller und ihr Mann Gerd Müller, bis zur Rente ebenfalls in Costa Rica fürs Personalmanagement beim IBM-Konkurrenten HP zuständig, im Jahr 2014 nach Tübingen zogen, war den beiden klar: „Wir wollen was ohne Geld machen“, wie Gerd Müller, 63, ihr ehrenamtliches Engagement knapp umschreibt. In welche Richtung es gehen sollte, war auch ausgemacht. „Es war schon immer ein kleiner Traum von mir, dass Kinder aus benachteiligten Familien gefördert werden“, sagt Dagmar Müller. So landeten die beiden im November 2014 beim Runden Tisch Kinderarmut. Dessen Projekt, die Tübinger Kindercard, macht viele Angebote auch für sozial Schwache bezahlbar. „Nur Schwimmen hat gefehlt“, erinnert sich Dagmar Müller.

„Das geht ja gar nicht“, fand die in Wilhelmshaven an der Nordsee aufgewachsene Managerin. Schließlich „ist Schwimmenkönnen eine Überlebensversicherung“, wie sie sagt. Und es ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Kinder in der Schule sicher schwimmen lernen. Erst kürzlich wurden Zahlen bekannt, nach denen rund 60 Prozent der Sechs- bis Zehnjährigen in Deutschland keine sicheren Schwimmer sind. Allein im vergangenen Jahr ertranken 46 Kinder. Besonders viele Nichtschwimmer gibt es unter Geflüchteten. Laut DLRG kamen im Jahr 2016 in deutschen Gewässern 64 junge Geflüchtete um.

Doch es geht nicht nur um die Sicherheit. Gerade für Kinder und Jugendliche vom gesellschaftlichen Rand hat Schwimmenkönnen etwas mit Teilhabe zu tun. Seit Müller mit tatkräftiger Unterstützung ihres Mannes Anfang 2015 das Projekt „Schwimmen für alle Kinder“ ins Leben rief, bekommt sie immer wieder Anrufe von Lehrern. Sie berichten von Schülern, die beim Ausflug ins Freibad auf der Bank sitzen, statt im Becken zu toben. Auch Kinder an weiterführenden Schulen müssen bei Klassenfahrten daheim bleiben, weil sie sonst als Nichtschwimmer bei der Kanutour in Gefahr gerieten.

Die Müllers knüpften in kurzer Zeit ein Unterstützer- und Sponsoren-Netzwerk. Beteiligt sind Schwimmschulen, die Tübinger Stadtwerke, die DLRG, der Tübinger Schwimmverein, Geschäftsleute und Privatpersonen als Sponsoren. Durch Preisnachlässe, ehrenamtlichen Unterricht und Spenden bieten sie Kindern mit der Kindercard oder der Kreisbonuscard aber auch jungen Geflüchteten die Chance, kostenlos schwimmen zu lernen. Auch die Stadt Tübingen ist inzwischen mit im Boot und zahlt für 2017 einen Zuschuss von insgesamt 17 000 Euro an das Projekt.

An Ostern 2015 waren die ersten Kinder im Wasser. Seither ist das Projekt eine Erfolgsgeschichte. Insgesamt 365 Kinder und Jugendliche waren oder sind aktuell im Projekt. Und nicht bei allen ist nach dem Seepferdchen und dem Bronzenen Schwimmabzeichen Schluss. Einer der ersten Schwimmschüler, ein damals sechsjähriger Flüchtlingsjunge, ist inzwischen in der Sportfördergruppe des Tübinger Schwimmvereins.

Zunächst dachte Dagmar Müller noch, „dass wir das für Kinder von fünf bis zehn machen“. Aber: „weit gefehlt“: 106 der Schwimmschüler sind zwischen 10 und 13 Jahre alt, 97 zwischen 14 und 18. Auch die Nationalitäten sind bunt gemischt. Waren es am Anfang nur etwa 25 Prozent Kinder mit deutschem Pass, sind es jetzt 31 Prozent. Auch der Anteil von Mädchen und jungen Frauen wächst und liegt inzwischen bei 31 Prozent. „Klasse, dass sich das entwickelt“, freut sich Dagmar Müller.

Müller ist es wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen nach dem Seepferdchen weitermachen. Die Prüfung beinhaltet einen Sprung vom Beckenrand, 25 Meter schwimmen und das Heraufholen eines Gegenstands aus schulterhohem Wasser. Doch richtig sicher im Wasser sind die Frühschwimmer damit noch nicht. Auch die DLRG empfiehlt, das Jugendschwimmabzeichen in Bronze als Nachweis. Dafür muss man 200 Meter in maximal 15 Minuten schwimmen, aus einem Meter Höhe ins Becken springen und zwei Meter tief tauchen. Doch diese Ausbildung kostet: Pro Teilnehmer werden bis zum Seepferdchen im Schnitt 350 und bis zum Bronze-Abzeichen 600 Euro fällig. Die Kosten für eine Jahreskarte als Zutritt für alle Tübinger Bäder sind dabei eingerechnet. „Es ist wichtig, dass die Kinder für sich üben“, findet Müller. Da sei dann eine Jahreskarte günstiger als Zehnerkarten.

Das ganze ist eine Mischkalkulation. „Manche Kinder brauchen länger“, sagt Müller. Das hat gerade bei jungen Geflüchteten oft auch „mit traumatischen Erfahrungen zu tun“. Viele mussten auf ihrer Flucht in unsicheren Booten übers Mittelmeer, manche erlebten dabei, wie Mitflüchtlinge ertranken. Auch deshalb findet es Müller so „wichtig, dass die Kinder wirklich sicher schwimmen lernen“.

Einer von Dagmar Müllers Schützlingen ist Ruzbeh Abbaspur. Der 18-Jährige stand vor eineinhalb Jahren zunächst nur am Beckenrand. Er war als Begleitung für seinen jüngeren Bruder mit ins Schwimmbad gekommen. Auf die Frage von Müller, was denn mit ihm sei, druckste Ruzbeh ein bisschen herum. Na ja, so richtig schwimmen könne er nicht, gab er schließlich zu. Heute steht er wieder vor allem am Beckenrand. Denn schwimmen kann Ruzbeh inzwischen so gut, dass er es anderen Jugendlichen beibringt – als Assistent des Schwimmlehrers Klaus Wieczorek. „Mein Ziel ist es, Rettungsschwimmer zu werden“, sagt der 18-Jährige Gymnasiast selbstbewusst: „Wenn ich was anfange, mach’ ich es bis zum Ende.“ Beruflich aber schwebt dem Teenager etwas ganz anders vor. In zwei Jahren, wenn er sein Abitur hat, will er „irgendwas mit Medizintechnik machen“.

Wieczorek trainiert hauptberuflich in Stuttgart die Rettungstaucher der Feuerwehr; nebenher betreibt er in Tübingen eine Schwimmschule. Eigentlich gibt er dort nur Einzel- oder Doppelunterricht. Doch Müller konnte auch ihn für das Projekt begeistern. Gemeinsam mit anderen ausgebildeten Trainerinnen und Trainern nimmt Wieczorek jetzt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unter seine Fittiche. Man ernte dabei „extrem viel Dankbarkeit“, sagt Wieczorek.

Mit seinem Assistenten ist er hoch zufrieden. Ruzbeh sei von Beginn an „sehr motiviert, ambitioniert und auch talentiert“ gewesen, erinnert sich sein Schwimmlehrer an die ersten Stunden im Wasser mit dem Jugendlichen, der mit seiner Familie vor zwei Jahren aus dem Iran floh.

Auch sie mussten übers Mittelmeer. Ruzbeh, der mit seinen zwei Meter Gardemaß viel älter wirkt als 18, wird ziemlich einsilbig, wenn man ihn auf die Flucht anspricht. Ja, kommt es schließlich zögerlich, er habe das auch erlebt, „dass Leute im Wasser sind, ihre Arme hochreißen und untergehen“.

Für Ruzbeh hat das Wasser seine Schrecken verloren. Dank den Kursen zu Seepferdchen und Bronzenem Schwimmabzeichen ist Wasser zu seinem Element geworden. „Wasser macht ruhig“, sagt der 18-Jährige. „Es gibt Energie. Du kannst deine Müdigkeit abgeben.“ Aus dem Fluchttrauma ist eine Motivation zur Ausbildung zum Rettungsschwimmer geworden. Bald will er auf eigene Verantwortung Kindern das Schwimmen beibringen und „dafür sorgen, dass weniger Leute ertrinken“.

Für Dagmar Müller ist Ruzbehs Geschichte eine Bestätigung, dass es richtig ist, so viel Wirbel ums „Schwimmen für alle Kinder“ zu machen. Es sei doch „schön, wenn wir selber Nachwuchs für das Projekt generieren“, findet sie und lächelt zufrieden.

Im Strandkorb über dem Tübinger Dächermeer kommen Dagmar Müller oft die besten Ideen für ihr Kinder-Schwimm-Projekt. Bild: Hahn

Im Strandkorb über dem Tübinger Dächermeer kommen Dagmar Müller oft die besten Ideen für ihr Kinder-Schwimm-Projekt. Bild: Hahn

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Erstellt:
24.06.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 26sec
zuletzt aktualisiert: 24.06.2017, 01:00 Uhr

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