Gefährlicher Nationalismus

Christian Lindner warb am Freitag für einen „solidarischen Realismus“

Beim Neujahrsempfang der FDP warnte der Vorsitzende Christian Lindner vor nationaler Abschottung. Weitere kontroverse Themen waren die Bildungspolitik und die TTIP-Verhandlungen.

01.02.2016

Von Philipp Koebnik

Wortreich und reich an Gesten: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner beim „Night-Talk“ in der Hermann-Hepper-Halle. Bild: Faden

Wortreich und reich an Gesten: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner beim „Night-Talk“ in der Hermann-Hepper-Halle. Bild: Faden

Die Neujahrsempfänge der Parteien stehen dieses Jahr ganz im Zeichen der nahenden Landtagswahl. So auch der „Night-Talk“ der FDP am Freitag in der Hermann-Hepper-Halle, wo sich der Bundesvorsitzende Christian Lindner den Fragen der Gäste stellte. Rund 250 Interessierte waren der Einladung von FDP, Liberaler Hochschulgruppe und Jungliberalen gefolgt. Die Blues-Band Two Dogs Left eröffnete den Abend mit einem kleinen Konzert; um 21 Uhr begann dann die Versammlung im Stile eines amerikanischen „Town Hall Meetings“.

Der FDP-Landtagskandidat Dietmar Schöning begrüßte die Besucher/innen. In der Mitte der Halle stehend, sprach dann Lindner zum Publikum. Er ging auf und ab, lockerte die Atmosphäre immer wieder durch Anekdoten und humorvoll-pointierte Bemerkungen auf. „Selten habe ich mich auf eine Landtagswahl so gefreut wie über die anstehenden Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz“, begann der Parteivorsitzende seine Rede. Nie sei es dringender gewesen, zu zeigen, „was wir von dieser Politik halten“. Da unterbrach Lindner sich, denn er hatte den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer im Publikum erblickt. Lindner begrüßte ihn – den einzigen Grünen, „den die CDU sofort aufnehmen würde“.

Jeder Dritte, fuhr er fort, wolle laut Umfragen gar nicht wählen gehen. „In dieser Lage!“ Millionen Menschen auf der Welt hätten nur den einen Traum, einmal an einer Wahl teilnehmen zu dürfen. „Jede nicht abgegebene Stimme ist deshalb ein Schlag ins Gesicht all dieser Menschen.“ Wählen sei nicht nur ein Recht, sondern Bürgerpflicht.

Plötzlich fielen einige Lichter aus, allerdings nur für wenige Sekunden. „Sind das die erneuerbaren Energien?“, scherzte Lindner, bevor er sich dem nächsten Punkt zuwandte: der Herausforderung des digitalen Zeitalters. Vielerorts gebe es immer noch keinen Breitband-Internetzugang, kritisierte er. „Aber mittelständische Unternehmen können in Zeiten von Industrie 4.0 darauf nicht verzichten.“

Bei den anstehenden Wahlen gehe es allerdings um mehr. Die Eurokrise und die sogenannte Flüchtlingskrise ließen sich mit gutem Willen bewältigen. Die eigentliche Gefahr liege woanders, denn überall in Europa seien die Rechtspopulisten im Aufwind. „Der neue Nationalismus ist die größte Gefahr für Freiheit und Wohlstand“, warnte der FDP-Chef.

Die AfD habe die Krise als Glücksfall bezeichnet, sagte Lindner. „Eine Partei, die sich über Probleme freut und Ängste schürt, darf in Deutschland nie wieder erfolgreich sein.“ Dies sei die Lehre, die man aus der Zeit vor 1945 ziehen müsse. Und Lindner führte noch eine wahltaktische Überlegung an: „Wer AfD wählt, macht Merkel stark.“ Bleibe die AfD erfolgreich, seien in der Bundesrepublik bald nur noch große Koalitionen möglich. Einer linken Politik der offenen Grenzen einerseits und der von der AfD propagierten Flüchtlingspolitik andererseits stellte Lindner sein Konzept eines „solidarischen Realismus“ gegenüber. Deutschland sei auf Migration angewiesen. Für jene, die legal hier sind, sollten Integrationsangebote geschaffen werden. Aber: „Die Gesellschaft sollte entscheiden, wen sie hierher einlädt.“

Für welche Bildungspolitik die FDP steht, wollte ein junger Mann wissen. Das wichtigste sei, so Lindner, „dass Unterricht überhaupt stattfindet“. Er kritisierte außerdem, dass digitale Medien viel zu selten in der Schule eingesetzt würden. „Auf dem Pausenhof reden die Kinder über die neuesten Apps und im Klassenzimmer heißt es dann: zurück in die Kreidezeit.“ Schule müsse aber aufs Leben vorbereiten.

Als weiteres Problem nannte Lindner den Bildungs-Föderalismus. Zudem wandte er sich gegen die „Einheitsschule“, wie er die Gemeinschaftsschule nennt. Weil Eltern und Unternehmen dieser nicht trauten, würden mehr Leute ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Die „Spaltung der Gesellschaft“ in jene, die sich private Bildung leisten können und jene, die das nicht können, müsse verhindert werden.

Ein Besucher fragte, was die FDP tun wolle, damit das Ländle wirtschaftlich erfolgreich bleibt. „Meine Hauptsorge gilt dem Mittelstand“, betonte Lindner. Um Investitionen und Innovationen deutscher Unternehmen zu stärken, plädiere er beispielsweise für eine steuerliche Forschungsförderung und die Abschaffung der Erbschaftssteuer.

Entschieden warb der 37-Jährige zudem für das Freihandelsabkommen TTIP, das die deutsche Wirtschaft stärken und Arbeitsplätze sichern werde. Dass im Geheimen verhandelt werde, sei nicht verwunderlich – schließlich sei der Westfälische Frieden „auch nicht auf dem Marktplatz verhandelt worden“. Lindner zeigte sich zuversichtlich, dass durch TTIP erstmals gemeinsame Standards erreicht würden. Ja, es sei sogar eine „zivilisatorische Chance, über das transatlantische Freihandelsabkommen Regeln für die globalisierte Welt“ zu etablieren. Andernfalls würden die Regeln von mächtigen und autoritären Staaten wie China bestimmt. Im Übrigen seien beispielsweise die US-Standards bei Lebensmitteln höher als hierzulande. Auch die Angst vor privaten Schiedsgerichten sei unbegründet: Die Gefahr, dass Unternehmen Staaten erfolgreich verklagen könnten, bestehe nicht.

Als jemand darauf hinwies, dass riesige US-Konzerne wie Google oder Amazon als faktische Monopole immer mehr Macht gewönnen, stellte Lindner klar, was er unter Liberalismus versteht: „In der Marktwirtschaft dürfen niemals einige wenige so mächtig werden, dass sie die Regeln diktieren.“

Ein junger Mann wollte wissen, was die FDP für die kleinen Leute tue. „Wir sind keine Unternehmer-Lobbypartei, sondern wir sind die Partei der Marktwirtschaft“, sagte Lindner. Für die Liberalen sei wichtig, dass die Menschen „sich etwas aufbauen können“. Die grün-rote Landesregierung wolle nun jedoch die Grunderwerbssteuer erhöhen. „Das führt dazu, dass die Leute sich ihr Reihenhäuschen nicht mehr leisten können.“ Neben einer wirtschaftsfördernden Politik sei eine gute Ausbildung der Schlüssel. Der Besucher verwies darauf, dass seine Mutter als ausgebildete Frisörin vor Einführung des Mindestlohns weniger verdient habe als etwa eine Kassiererin. Der FDP-Vorsitzende hielt das für unglaubwürdig. „Schicken Sie mir das mal“, beschied er dem Besucher.

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Erstellt:
01.02.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 48sec
zuletzt aktualisiert: 01.02.2016, 01:00 Uhr

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