Kompetenzen abgeben

Beim Sommerempfang reklamiert Industrie- und Handelskammer mehr Selbstverwaltung

Über Brexit, den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union, hätte am Mittwochabend am liebsten jeder Redner gesprochen beim Empfang der IHK-Gremien Tübingen und Reutlingen. Präsident Christian O. Erbe meinte gar, ihn treffe der Schlag, als er das Ergebnis von der Insel hörte.

01.07.2016

Von Gert Fleischer

Sommerempfang der IHK-Gremien Tübingen und Reutlingen in Rottenburg. In der Mitte Präsident Christian O. Erbe, rechts Oberbürgermeister Stephan Neher sowie (von links) drei IHK-Vizepräsident(inn)en Johannes Schwörer, Daniela Eberspächer-Roth und Hans-Ernst Maute. Bild: Fleischer

Sommerempfang der IHK-Gremien Tübingen und Reutlingen in Rottenburg. In der Mitte Präsident Christian O. Erbe, rechts Oberbürgermeister Stephan Neher sowie (von links) drei IHK-Vizepräsident(inn)en Johannes Schwörer, Daniela Eberspächer-Roth und Hans-Ernst Maute. Bild: Fleischer

Rottenburg. Gut 150 Gäste waren in die Rottenburger Zehntscheuer gekommen. Dorthin hatte die Industrie- und Handelskammer eingeladen; der Empfang galt vor allem den ehrenamtlich für die IHK tätigen Unternehmer/innen. Zudem waren Landtags- und Bundestagsabgeordnete da, Chefs von Behörden, Verbänden, Hochschulen und vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Hans-Ernst Maute, als Vorsitzender des IHK-Gremiums Tübingen der Gastgeber, begrüßte alle.

Maute erinnerte an eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig vom März dieses Jahres, das den Industrie- und Handelskammern Grenzen setzt bei politischen Äußerungen. Der Wirtschaftsverband darf öffentlich wirtschaftspolitisch Stellung beziehen, nicht aber allgemeinpolitisch. Nach dem IHK-Gesetz gehört es zu den Aufgaben der Kammer, das Gesamtinteresse ihrer Gewerbetreibenden wahrzunehmen, Behörden durch Vorschläge, Gutachten und Berichte zu unterstützen und zu beraten. Die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen ist ausdrücklich ausgenommen. Maute: „Wir bewegen uns auf glattem Eis.“

Wirtschaftlich geht es im Kammerbezirk nach einem neuen Gutachten des Prognos-Instituts weiterhin gut, die Betriebe investieren kräftig. Bei der Eigenforschungsintensität gebe es Bedarf, die Gründungsdynamik sei zurückgegangen und in der Verkehrsanbindung seien trotz Fortschritte bei B 27 und B 28 „signifikante Defizite“ festgestellt worden, berichtete Maute und wurde direkt: „Meine Herren von der Politik, Sie müssen dran bleiben, das brauchen wir als Wirtschaft unbedingt.“ Außerdem mangele es an Übernachtungen. „Da muss was passieren“, forderte Maute.

Nach einem Grußwort von Oberbürgermeister Neher – er sagte denen, die nach dem Brexit in der EU vor allem über die wirtschaftlichen Folgen reden: „Die EU war ursprünglich gedacht als ein Staatenbündnis zur Friedenssicherung“ – und seinem Dank an die Unternehmen hielt IHK-Präsident Christian O. Erbe das Hauptreferat. Es war wohl eine Reverenz ans Gericht, dass er es „Wirtschaft und Politik“ überschrieb.

„Europa steht auf der Kippe“, sagte Erbe. Die Abstimmung der Briten zum EU-Austritt nannte er ein „gigantisches Misstrauensvotum“, das womöglich einen Domino-Effekt auslöst. Er hoffe jedoch, dass Kern-Europa nun zusammenrückt und die EU weiterentwickelt. Überreaktionen wären jetzt schlecht, sagte Erbe: „Es ist uns offensichtlich nicht gelungen, die Vorteile eines offenen Europas zu vermitteln.“

Erbe nannte zwei aktuell diskutierte Möglichkeiten, den Brexit abzuwickeln: ein sanfter Übergang mit gegenseitigen Ausnahmeregelungen, um Nachteile für die Wirtschaft zu minimieren. Oder ein harter Kurs, um anderen Staaten, die mit einem Ausstieg liebäugeln, die Konsequenzen vor Augen zu führen. Erbe gewann beiden Varianten etwas ab und schloss daraus: „Es darf nicht der Eindruck entstehen, Europa würde zu einer Bratbude für Extrawürste verkommen.“ Dafür gab‘s Beifall.

Wozu benötigt die Wirtschaft die Politik? Die Politik setzte den Rahmen, innerhalb dessen sich die Marktteilnehmer in fairem Wettbewerb frei bewegen. Ansonsten soll sich der Staat raushalten, meinten die Vertreter des Ordoliberalismus der „Freiburger Schule“. Das ging nicht für alle Menschen gut, deshalb kam die soziale Marktwirtschaft. Dabei greift der Staat gezielt zugunsten Schwächerer ein.

Wie sehr die Politik steuern soll, ist häufig Thema für politischen Streit. Erbe nannte als eine Folge jahrzehntelanger politischer Steuerungsversuche überbordende Bürokratie. Aufgabe der IHK sei es bundesweit, auf Entstaatlichung zu drängen, auf den Mut zur Lücke im Detail, damit nicht jede Kreativität erstickt wird. Die Menschen sollten wieder mehr selbst entscheiden und selbst verantworten. Der Politik empfahl Erbe: „Manchmal kann es auch ausreichend sein, einfach nichts zu tun.“

Handeln soll der Staat im internationalen Wettbewerb, damit nicht multinationale Großkonzerne mittelständische Unternehmen erdrücken. Reagieren müsse der Staat „dringend“, um viele Gesetze der Digitalisierung anzupassen.

Die Wirtschaft brauche also den Staat, aber der Staat benötige ebenso die Wirtschaft. Ohne die Wirtschaft und deren Steuerzahlungen einschließlich der Abgaben der in der Wirtschaft Beschäftigten hätte der Staat kein Geld, „und es gäbe auch keinen Sozialstaat“.

Die Wirtschaft integriere Menschen in die Gesellschaft, auch Flüchtlinge. Sie entlaste den Staat durch ihre Selbstverwaltungseinrichtungen wie die IHK. Christian Erbe forderte, dass der Staat mehr Aufgaben an die IHK überträgt, von der Gewerbeanmeldung bis zu Handlungen bei Existenzgründungen, Außenwirtschaftsförderung oder Berufsbildung.

Eine stärkere Rolle wünscht sich Erbe für die IHK als Beraterin der Politik auf allen Ebenen. Den Betriebsinhabern vor Ort rief er zu, sich einzumischen in die Politik. „Denn es wird“, sagte Erbe, „immer noch zu selten auf die gehört, die den Wohlstandskuchen produzieren. Statt dessen auf jene, die den Kuchen unter sich verteilen wollen.“

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Erstellt:
01.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 15sec
zuletzt aktualisiert: 01.07.2016, 01:00 Uhr

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