Zum ersten sportlichen Highlight nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte auch ein Kick zwischen Süd-Württemberg und Süd-Baden

Beim „Großstadtlauf“ siegten die Reutlinger

Schloss und Neckarfront waren illuminiert, auf dem Fußballplatz wurde das erste „Länderspiel“ zwischen Süd-Württemberg und Süd-Baden angepfiffen und auf der Wilhelmstraße startete der erste Stadtlauf. Es war ein „Großsportereignis“, das die Nachkriegs-Tübinger 1946 für Stunden aus ihren Alltagssorgen entführte.

08.08.2013

Von Manfred Hantke

Der erste Stadtlauf nach dem Zweiten Weltkrieg war gleich ein „Großstadtlauf“. Start und Zieleinlauf waren wie heute in der Wilhelmstraße, Sieger der Staffel wurde die Reutlinger Stadtmannschaft.

Der erste Stadtlauf nach dem Zweiten Weltkrieg war gleich ein „Großstadtlauf“. Start und Zieleinlauf waren wie heute in der Wilhelmstraße, Sieger der Staffel wurde die Reutlinger Stadtmannschaft.

Tübingen. Ausgebombte, Flüchtlinge, Verletzte, Hungernde – sie gehörten auch ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Stadtbild Tübingens. Sicher: Die Versorgungslage hatte sich gebessert, doch der Bezugsschein bestimmte immer noch weitgehend den Mageninhalt; die Eisenbahn dampfte wieder, wenn auch mit Einschränkungen; Gebäude und Brücken wurden instand gesetzt, wenn Material da war; die Uni war wieder offen, auch in den Schulen wurde unterrichtet, sei es auch im Schichtunterricht.

Der alte „Kasernenton“ hallte jedoch noch in den Amtsstuben wider, weshalb Oberbürgermeister Adolf Hartmeyer sich veranlasst sah, die städtischen Angestellten und Beamten dringend zu bitten, den „Kasernenumgangston“ gegenüber den „hilfeheischenden Rathausbesuchern“ doch abzulegen. Der „Geist der neuen Zeit“ solle sich auch in den Amststuben niederschlagen.

Die Damen-Gymnastikgruppe

Die Damen-Gymnastikgruppe

Nachdem die Kultur – angefangen mit „Romeo und Julia“ im August 1945 auf dem Marktplatz – die Tübinger die schwere Nachkriegszeit für Stunden vergessen half, kam auch bald der Sport aus seinen Startlöchern. Die französische Militärregierung genehmigte für den 2. September 1945 die ersten öffentlichen Sportwettkämpfe zugunsten des Sozialamts.

Beliebt waren nach dem Krieg Boxkämpfe und – natürlich Fußball. Da spielten die Tübinger Kicker gegen die Reutlinger. Die Uni-Städter verloren mit 0:3, das Rückspiel drei Wochen später mit 2:4. Im November 1945 starteten dann bereits die Rundenspiele im Fußball und im damals populären Handball. Offiziell konnten Sportvereine ab Februar1946 zugelassen werden.

Neckarfront war „märchenhaft schön“

Die Damen-Gymnastikgruppe

Die Damen-Gymnastikgruppe

Hatten sich die Sportverantwortlichen also im Herbst 1945 schon mal warmgelaufen, planten sie für das kommende Jahr das erste Sportereignis in Tübingen. „Groß“ sollte dabei alles sein, was da am 12. Mai laufen sollte: Ein „Großstadtlauf“ war angekündigt, auch ein „Großkonzert“ der Stuttgarter Schutzpolizei-Kapelle sowie ein „internationales“ Fußballspiel Süd-Württemberg – Süd-Baden. Dieses Großsportkulturhighlight ist einigen Tübingern gar als „Stadtfest“ in Erinnerung geblieben. So jedenfalls sind die Bilder deklariert, die uns TAGBLATT-Leser Thomas Bosch überließ.

Der Sonntag sollte zum „Tag der Entspannung und der Erholung“ werden, schrieb damals das TAGBLATT. Mit zwei Reichsmark war jeder dabei. Als „äußeres Zeichen des gemeinsamen Erlebens“ trug er dafür eine Plakette, spendete für das Tübinger Hilfswerk – „zur Linderung der Not unserer Ostflüchtlinge und Schwerstverletzten“ – und hatte die Chance auf einen Gewinn.

Die Damen-Gymnastikgruppe

Die Damen-Gymnastikgruppe

Samstagabend bereits blies die Musikkapelle der Stuttgarter Schutzpolizei auf der Platanenallee. Wer die Plakette hatte, durfte umsonst hin. War schon das „musikalische Ereignis lange entbehrt“, verzauberte die Tübinger vollends die angestrahlte „malerische Neckarpartie“ mit Stiftskirche, Hölderlinturm, Stift und Schloss – „märchenhaft schön“, wie der TAGBLATT-Berichterstatter notierte. Mit Musik stimmten die Organisatoren die Tübinger und ihre Gäste aus Südwürttemberg und Hohenzollern dann am Sonntag ein.

Am Silcherdenkmal auf der Platanenallee gaben die Tübinger Sänger ein Chorkonzert. Dann aber hielt die Sportler nichts mehr. Zunächst startete der „Großstadtlauf“ – ein Staffellauf über 4200 und ein Einzellauf über 1500 Meter. Den Preis stiftete der Tübinger OB. 14 Mannschaften hatten vorab für die Staffel gemeldet, doch zwei Mannschaften aus dem Süden Württembergs blieben unterwegs stecken, sie hatten eine Autopanne. Weitere Staffeln, darunter die Reutlinger Kreismannschaft, zogen zurück. So traten nur sieben Staffeln über 4200 Meter an. Lange vor Laufbeginn war die gesamte Stadt in Bewegung. Schaulustige standen an allen Straßen. Start- und Ziel war übrigens die Wilhelmstraße, ein paar Meter vor dem im vergangenen Jahr neu festgelegten Start und Ziel des heutigen Tübinger Stadtlaufs.

Experten sagten Zweikampf voraus

Die Damen-Gymnastikgruppe

Die Damen-Gymnastikgruppe

Dort, an der Universität, standen weit über 1000 Zuschauer und feuerten die Läufer an. Ein Lautsprecher informierte sie über den jeweils aktuellen Stand auf der Strecke. Die führte von der Wilhelm- zur Frischlinstraße, über die Naukler- bis zur Herrenberger Straße, zum Schleifmühleweg, über die Haaggasse und den Marktplatz zum Lustnauer Tor und zurück in die Wilhelmstraße.

Die Experten hatten einen Zweikampf zwischen der Reutlinger und Tübinger Stadtmannschaft vorausgesagt. Doch ein Staffelwechsel der Tübinger ging ziemlich daneben, die Staffel lief nur als Vierter hinter den Staffeln der vom Start weg führenden Reutlinger, Friedrichshafener und der Mössinger ins Ziel. „Starker Beifall“ empfing den Reutlinger Schlussmann, hieß es im TAGBLATT. Der sportliche Höhepunkt war freilich das „Länderspiel“ zwischen Württemberg und Baden am Sonntag um 15 Uhr.

Die Militärkapelle

Die Militärkapelle

Da die Franzosen sowohl Teile von Baden und Württemberg besetzt hielten, wurde das grenzüberschreitende Sportereignis unbürokratisch gelöst. Die Badener wohnten im Lustnauer „Adler“ an der Kreuzung Wilhelm-Bebenhäuser Straße. 10 000 Zuschauer wurden erwartet. Dazu mussten im „Stadion militaire“, dem Universitätsstadion, Tribünen aufgebaut werden. Als Favoriten galten die Badener, die „eine starke und schussgewaltige Stürmerreihe“ aufboten und bekannter waren als die württembergischen Kicker. Bereits beim Vorspiel der beiden A-Jugendmannschaften Tübingen – Reutlingen (1:2) waren die Zuschauerreihen dicht besetzt. Ihm folgten noch ein paar Läufe sowie eine Damen-Gymnastikgruppe (Leitung: Frau Sauerbeck). Zum Hauptkick kamen dann 12 000 Zuschauer. Dabei waren auch Capitaine Henri Humblot und Oberregierungsrat Konrad Zweigert.

Den Württembergern trauten die Experten nicht allzuviel zu, zumal sie Tage zuvor gegen Metzingen mit 2:6 verloren hatten. Das TAGBLATT verglich die Spielstärke mit einer guten Landesliga-Elf. Spielerische Reife, Technik und Tempo seien bei Ländermannschaften sonst „vollkommener, präziser und lebendiger“, tadelte das Blatt.

Das Tübinger Großsportereignis von 1946

/
<p>Das Tübinger Großsportereignis von 1946</p>

Das Tübinger Großsportereignis von 1946

© Privat

<p>Das Tübinger Großsportereignis von 1946</p>

Das Tübinger Großsportereignis von 1946

© Privat

<p>Das Tübinger Großsportereignis von 1946</p>

Das Tübinger Großsportereignis von 1946

© Privat

<p>Das Tübinger Großsportereignis von 1946</p>

Das Tübinger Großsportereignis von 1946

© Privat

<p>Das Tübinger Großsportereignis von 1946</p>

Das Tübinger Großsportereignis von 1946

© Privat

<p>Das Tübinger Großsportereignis von 1946</p>

Das Tübinger Großsportereignis von 1946

© Privat

Doch der gerühmte badische Sturm versagte an diesem Tag, er wurde kaum gefährlich. Hingegen hielt die württembergische Abwehr, Breisinger (Sulz) „war gut“, Hechler (Tübingen) „stand wie eine Mauer“. In den ersten zehn Minuten machten die in schwarz-gelben Trikots spielenden Badener mächtig Druck, dann konnten sich die blau-weißen Württemberger lösen und mehr und mehr das Spiel bestimmen.

Das Tor aber trafen auch sie nicht. „Dramatische Formen“ nahm das Spiel für den TAGBLATT-Berichterstatter an. Besonders dann, wenn die Schwaben das leere Tor nicht trafen, auch nicht im Nachschuss. Doch in der 43. Minute brachte Vögele (Friedrichshafen) den Ball doch über die Linie, 1:0 für Württemberg.

Nur fünf Minuten waren in der zweiten Halbzeit gespielt, da erhöhte Schöller (Reutlingen) auf 2:0. Jetzt wachten die Badener endlich auf und machten mächtig Druck, Württemberg verteidigte mit neun Mann, stand wie eine Wand, doch die Badener verkürzten in der 68. Minute auf 1:2. Das war?s aber auch. Württemberg wurde „glücklicher Sieger“ des ersten und einzigen „Länderspiels“ in Tübingen nach dem Krieg. Dem Tübinger Hilfswerk brachte das „Großsportwochenende“ 50 000 Reichsmark ein.

INFO: Wenn Sie ebenfalls Fotos von diesem „Großsportereignis“ oder dem „Großkonzert“ von 1946 haben und sie den Zeitzeugnissen zur Verfügung stellen wollen, rufen Sie uns an: 0 70 71 / 93 43 72.

Zum Artikel

Erstellt:
08.08.2013, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 18sec
zuletzt aktualisiert: 08.08.2013, 12:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Recht und Unrecht
Sie interessieren sich für Berichte aus den Gerichten, für die Arbeit der Ermittler und dafür, was erlaubt und was verboten ist? Dann abonnieren Sie gratis unseren Newsletter Recht und Unrecht!