Wenn immer Nacht ist

Bei genetisch bedingter Farbenblindheit gibt es neuerdings bessere Therapiechancen

Farbenblindheit versetzt in einer sehr hilfsbedürftigen Zustand. Farbenblindheit ist allerdings nicht mit Rot-Grün-Fehlsichtigkeit zu verwechseln. Farbenblinde leiden stattdessen an Tagesblindheit. In Tübingen und München beschäftigt sich ein Stab von Ärzten damit, diesen Gendefekt zu beheben.

01.07.2016

Von Ulla Steuernagel

Auf diesem Bild erkennt man die beiden Papageien nur mit viel Phantasie. So werden sie von Menschen mit kompletter Farbenblindheit gesehen. Bild: Hagemann

Auf diesem Bild erkennt man die beiden Papageien nur mit viel Phantasie. So werden sie von Menschen mit kompletter Farbenblindheit gesehen. Bild: Hagemann

Tübingen. Bei einem Drittel derjenigen, die unter Achromatopsie (Farbenblindheit) leiden, liegt die Ursache dafür in einer Genmutation. Farbenblinde sind von hoher Blendempfindlichkeit und haben eine Sehschärfe, die bei etwa fünf Prozent liegt. Das kommt daher, dass die für das Sehen bei Tag und für Farben zuständigen Fotorezeptoren auf der Netzhaut, die Zapfen, gestört sind. Die Patienten sehen ausschließlich mit den Rezeptoren, die für das Sehen bei Nacht (Stäbchen) gedacht sind. Das heißt, sie nehmen vor allem Kontraste und Bewegung wahr, vertragen helles Licht nur schlecht und ahnen ihre Umgebung mehr, als dass sie sie sehen.

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz der Universität München und des Tübinger Uniklinikums, an der am Donnerstag sieben Ärzte und Wissenschaftler teilnahmen, gab es erste Hoffnung für die Therapie dieser insgesamt seltenen Erkrankung zu vermelden. Seit drei Jahren arbeitet ein Konsortium aus zwanzig Ärzten und Wissenschaftlern an einer gentherapeutischen Behandlung der Achromatopsie. Wie sehr die Farbenblindheit die Lebensqualität beeinträchtigen kann, das schilderte Dr. Olav Hagemann, Vater eines farbenblind geborenen Sohnes. Vor elf Jahren gründete der Laborarzt eine Selbsthilfegruppe.

Bei seinem Sohn wurde die Sehbeeinträchtigung glücklicherweise frühzeitig diagnostiziert. Die Diagnose ist immer noch nicht ganz einfach, ein Nystagmus (ein Augenzittern) kann ein erstes Indiz sein. Manche ältere Betroffene nehmen ihr mangelndes Sehvermögen gar nicht so extrem wahr. Dabei ist es für sie nicht leicht, sich im Straßenverkehr zu bewegen oder etwa Gesichter zu erkennen.

Inzwischen weiß man, dass der Defekt auf eine Genmutation zurückgeht, die Tübinger Forscher als erste entdeckt haben. Prof. Bernd Wissinger, Molekulargenetiker aus Tübingen und Leiter des wissenschaftlichen Konsortiums, erklärte, dass die Erkrankung bisher als nicht therapierbar galt und nun innerhalb einer Klinischen Studie weltweit erstmals gentherapeutisch behandelt wird.

Dabei wird das defekte Gen (CNGA3) durch eine synthetisch hergestellte gesunde Kopie ersetzt, die in die Zellen der Netzhaut „eingeschleust“ wird. Als Träger verwendet man Viren, die in der Münchner Pharmakologie in der Arbeitsgruppe von Prof. Martin Biel hergestellt werden.

Auch Farben könnten sichtbar werden

In der Tübinger Augenklinik erproben derzeit die beiden Augenmediziner Prof. Karl Ulrich Bartz-Schmidt und Prof. Dominik Fischer die chirurgischen Mittel. Mit Mikroinstrumenten injizieren sie die Flüssigkeit unter die Netzhaut. Der Eingriff selbst dauert kaum länger als eine halbe Stunde. Welche Fortschritte die Patienten machen werden, wird sich erst im Laufe der Studie erweisen. Die Aussichten stehen gut, aber „bis jetzt“, so Fischer, „haben wir noch nicht den Jackpot geknackt“.

Möglicherweise verbessern die Patienten aber nicht nur ihren nächtlichen Sehmodus, verlieren einen Teil ihrer Blendempfindlichkeit und gewinnen deutlich an Sehschärfe. Auch eine Idee von Farbe könnten sie dann vielleicht erstmals erlangen. Das allerdings hängt davon ab, wie weit die Rezeptoren, die für das Sehen am Tag zuständig sind, unwiderruflich geschädigt sind. Allerdings gibt es auch hier noch Unsicherheiten, wie Prof. Marius Ueffing von der Tübinger Augenheilkunde sagte: „Sehen hängt auch vom Gehirn ab. Wir wissen nicht, wie das Gehirn mit Farbe umgeht.“

So sehen die selben Papageien für Normalsehende aus. Bild: Hagemann

So sehen die selben Papageien für Normalsehende aus. Bild: Hagemann

Nachtblindheit soll auch behandelbar werden

3000 Menschen leiden in Deutschland unter Chromatopsie. Insofern handelt es sich um eine seltene Erkrankung. Doch inzwischen sind hunderte von Genen bekannt, deren Defekt ebenfalls zu Augenerkrankungen führt. Was im Zusammenhang mit der Farbenblindheit erforscht wird, kann auch bei anderen Gentherapien von Nutzen sein. Die Nachtblindheit etwa (Retinitis Pigmentosa) kann durch 50 verschiedene Gene ausgelöst werden und zu einer Degeneration der Netzhaut führen. In anderthalb Jahren soll eine zweite Klinische Studie sich mit dieser bislang nicht heilbaren Erkrankung der fürs nächtliche Sehen wichtigen Stäbchen beschäftigen, in deren Verlauf es auch zu eingeschränktem Tagsehen, dem sogenannten Tunnelblick, kommt.

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Erstellt:
01.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 51sec
zuletzt aktualisiert: 01.07.2016, 01:00 Uhr

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