Reutlingen

Armut und Ausgrenzung liegen eng beieinander

Mitglieder des Wohlfahrtsverbandes vergleichen den Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017 mit der Situation vor Ort.

21.08.2017

Von Uschi Kurz

Als der Paritätische Wohlverbands 2015 seinen Armutsbericht vorlegte, wurde ihm vorgeworfen, dass er ein viel zu düsteres Bild zeichne. Die Verfasser seien als „Nestbeschmutzer“ beschimpft worden, sagt Gabriele Janz vom Kreisvorstand des Partitätischen. Zwei Jahre später – mit dem aktuellen Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland – sei das Thema in der gesellschaftlichen Diskussion angekommen.

Um die bundesweiten Erkenntnisse auf die konkrete Situation vor Ort herunterzubrechen, haben verschiedene Mitgliedseinrichtungen des Paritätischen Kreisverbands den Bericht, der den Titel „Menschenwürde ist Menschenrecht“ trägt, genauer angesehen. Vor kurzem stellten sie das Ergebnis der Öffentlichkeit vor. Die Situation, so das Fazit, sei vor Ort nicht schlechter, aber auch keineswegs besser. Und das heißt, sie ist schlimm genug.

Harald Uetz arbeitet als Diplompädagoge beim Reutlinger Verein zur Förderung einer sozialen Psychiatrie (VsP), den es seit 45 Jahren gibt. Rund 100 psychisch kranke Menschen betreut der VsP zur Zeit. Uetz hat sich mit der Frage beschäftigt, ob eine psychische Erkrankung eine Abwärtsspirale in die Armut in Gang setzt. Seine Erfahrung zeigt, dies sei nicht zwingend der Fall. Nehme eine solche Erkrankung jedoch einen chronischen Verlauf, sei die Gefahr zur Desintegration groß: „Je länger die Erkrankung dauert, desto größer ist die Gefahr.“

Er brachte ein Fallbeispiel mit, „nicht real, aber ganz nahe an der Realität“. Herr Maier, Mitte 30, wird psychisch krank, verliert, als er verschiedene Hilfsangebote ablehnt, erst den Arbeitsplatz, dann Frau und Kinder – und zum Schluss die Wohnung. Nach einem Suizidversuch kommt er in die Psychiatrie: Er steht am Abgrund, stabilisiert sich mühsam und soll bald entlassen werden. „Aus dieser Situation heraus werden die Menschen bei uns vorstellig“, sagt Uetz. Das wichtigste, um sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sei eine Wohnung.

Doch die Wohnsituation habe sich in den vergangenen 15 Jahren in Reutlingen erheblich verschlechtert. Damals hätten die meisten Klienten des VsP noch eine Bleibe gehabt. Heute sei aber jede zweite Anfrage mit einer Wohnungssuche verbunden. Die Situation sei so prekär, dass sein Verein mittlerweile selbst Wohnungen anmiete.

Die Wartezeiten bei der GWG für Alleinstehende betrage drei bis fünf Jahre, klagt Uetz. Früher habe es in dringenden Einzelfällen noch eine Verständigung gegeben: „So etwas ist heute nicht mehr möglich.“ Er wünscht sich einen kommunalen Pakt zwischen der Stadt und den Betreuungseinrichtungen, damit sein Klientel einfacher an Wohnungen komme. Denn eines sei sicher: „Der freie Markt wird es nicht regeln.“

Ganz ähnliche Erfahrungen macht der Kinderschutzbund in Reutlingen. Die Ortsverbandsvorsitzende Ursula Schlüter berichtete bei der Pressekonferenz von einer achtköpfigen Familie (Eltern, alleinerziehende Tochter mit Kind, Sohn mit Frau und zwei Kindern), die seit Jahren auf engstem Raum in einer dreieinhalb Zimmer Wohnung leben. Die Familie stehe seit über zwei Jahren auf der Warteliste der GWG. „Die Leute kommen dann zu uns, aber wir können nicht helfen.“

Besonders von Armut bedroht, seien Kinderreiche, Arbeitslose und Migranten, so Schlüter. Je älter die Kinder in einer Familie seien, desto größer werde das Armutsrisiko. Und das ist verbunden mit Ausgrenzung. Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten sei nicht möglich. Eine besonders fatale Folge beobachtet Katarina Mallok vom Kinderschutzbund bei den Kindern von Alleinerziehenden, die ja aufgrund ihrer Lebenssituation besonders gestresst seien: „Sie fühlen sich verantwortlich für die Armut der Mutter.“

Der Kinderschutzbund hat mit seinen rund 80 ehrenamtlichen Familienpaten ein niederschwelliges Netzwerk aufgebaut. Die Unterstützung reicht von der Nachhilfe bis zum begleiteten Umgang getrennt lebender Eltern mit ihren Kindern. 2016 wurden im Landkreis rund 30 Familien vom Kinderschutzbund betreut, die Hälfte davon Alleinerziehende. Ebenfalls etwa die Hälfte der betreuten Familien hat Migrationshintergrund.

„Ausgrenzung und Armut sind eng beieinander“, sagt auch Wolfgang Grulke, der Geschäftsführer der Reutlinger Initiative deutsche und ausländische Familien (Ridaf). Er nennt die restriktive Einbürgerungspolitik der BRD als einen Grund für fehlende Integration vieler „Menschen mit Migrationshintergrund“. Letzteres sei eine Bezeichnung, die einen Einwanderer oft nach mehreren Generationen noch stigmatisiere.

So seien beispielsweise Absagen bei Lehrstellenbewerbern mit ausländischem Namen oder aufgrund der Hautfarbe gang und gäbe. Der praktizierte alltägliche Rassismus manifestiere das Problem. Integrationspolitik, so Grulke, sei keine Kulturpolitik, sondern Sozialpolitik. „Alle, die hierher kommen, sollten an den Leistungen teilhaben können“, kritisierte er zudem die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen mit guter oder schlechter Bleibeperspektive.

Jürgen Neumeister, Bezirksverbandsvorsitzender des Sozialverbands VdK, beschäftigt sich intensiv mit Armut im Alter. Auch hier spielt die Wohnungsnot eine ganz entscheidende Rolle. Vor allem in Großstädten, so Neumeister, reichten die Renten für die steigenden Mieten nicht mehr aus. Ein großes Problem bei alten Menschen sei die verdeckte Armut. Er bezifferte ihren Anteil zwischen 35 und 50 Prozent. Viele Ältere nehmen die ihnen zustehenden Hilfen gar nicht in Anspruch – „aus Scham“. Auch er beklagte, dass die Wohnungsnot in Reutlingen viel größer geworden sei. Die GWG nehme ihren Auftrag, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, längst nicht mehr wahr. Und die GSW, eine hundertprozentige Tochter des VdK, die sich im sozialen Wohnungsbau engagiere, habe in Reutlingen bislang keine Chance: „Wegen der GWG.“

Geschäftsführer Manfred König von Pro Labore wusste von seiner langjährigen Erfahrung mit Langzeitarbeitslosen ebenfalls wenig Positives zu berichten: „Die Langzeitarbeitslosigkeit in der Region nimmt zu, auch bedingt durch die Flüchtlinge.“ Das Versprechen, dass die Migranten nach ihren Deutschkurse rasch vermittelt würden, werde nicht eingelöst: „Die Vermittlung läuft sehr schleppend, obwohl das Geld vorhanden wäre.“ Er zitierte einen seiner Klienten, der resigniert gesagt hatte: Das Schlimmste sei, wenn man, Ausländer, arbeitslos und zudem alleinstehend sei.

Ältere über 50 würden komplett aus dem Arbeitsprozess ausgegliedert, kritisiert König. Dann sei die Altersarmut programmiert.

„Soziale Spaltung stoppen!“

Der VdK lädt am Donnerstag, 7. September, unter dem Motto „Soziale Spaltung stoppen!“ zu einem Podium mit Vertreter(inne)n des Sozialverbandes und Politiker(inne)n aus Südwürttemberg-Hohenzollern in die Stadthalle Reutlingen ein. Die Podiumsdiskussion ist Teil einer Veranstaltungsreihe, in der der VdK seine Forderungen zur Bundestagswahl 2017 im Gespräch mit Politikerinnen und Politikern erörtert. Der Eintritt zu der Veranstaltung, die um 16.30 Uhr beginnt, ist frei. Die Kreisverbände organisieren kostenfreie Busse.

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Erstellt:
21.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 07sec
zuletzt aktualisiert: 21.08.2017, 01:00 Uhr

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