Theodor Eschenburgs „kalte Arisierungen“

Anne Rohstocks Forschungen / Geschichtswerkstatt thematisiert Aberkennung der Ehrenbürgerschaft

Die größten Ausschläge schien das Debattenbeben über den Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg hinter sich zu haben. Nun bringt die Geschichtswerkstatt die Aberkennung seiner Ehrenbürgerschaft ins Gespräch.

07.06.2016

Von Hans-Joachim Lang

Anne Rohstock Bild: Sommer

Anne Rohstock Bild: Sommer

Tübingen. „Auf der Basis neuer Quellenfunde Eschenburgs Wirken in der Weimarer Republik und im Dritten Reich historisch einzuordnen“: Dieser Ankündigung der Geschichtswerkstatt folgten knapp 30 Interessierte ins Kulturamt. Im Wesentlichen berichtete die Tübinger Erziehungswissenschaftlerin über ihre Archivrecherchen, die sie vor über einem Jahr in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte publizierte und über die unsere Zeitung damals eingehend berichtete.

Jenen Aufsatz nannte eingangs Benedict von Bremen von der Geschichtswerkstatt als Anlass für den Vortragsabend und wies indirekt auch auf die aktuelle Absicht: Die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft habe ihren nach Theodor Eschenburg benannten Preis abgeschafft, aber in Tübingen sei er „immer noch Ehrenbürger“.

Zu seinen Lebzeiten war Theodor Eschenburg (1904 bis 1999) ein hoch geehrter Politikwissenschaftler, er war nach dem Krieg in der Bundesrepublik der erste Lehrstuhlinhaber in seinem Fach – und zwar an der Universität Tübingen. Rohstock hält das überlieferte Bild eines untadeligen liberalen Demokraten für das Ergebnis eines „unwissenschaftlich generierten Narrativs“, eine Art schönfärbende Erzählweise abseits historischer Fakten.

Rohstocks Anti-Narrativ setzt die Hebel in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit an. Der Primaner Eschenburg habe 1923 Hitler zugejubelt, sei als Student Vorsitzender einer stark völkisch geprägten nationalen Gruppierung gewesen, habe als Wirtschaftsfunktionär ausgangs der Weimarer Republik zwischen den Fronten laviert und die Republik zwar nicht umstürzen, aber in einen Einheitsstaat transformieren wollen.

Rohstock wies darauf hin, dass Eschenburg nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten seinen Job wechselte und Interessensvertreter verschiedener Kleinindustrien wurde. Er sei auf diese Weise „Teil der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik“ geworden. Unerwähnt blieb, dass dieser Einstieg als Sozius eines Büros erfolgte, in das er als gleichberechtigter Mitgeschäftsführer des jüdischen Kaufmanns Berthold Cohn geholt wurde und das sie einvernehmlich bis Ende 1935 führten. Überhaupt misst Rohstock Eschenburgs Freundschaften mit Juden keine größere Bedeutung bei als der, „dass selbst nationalsozialistische Schwergewichte wie Reichsmarschall Hermann Göring in manchen Juden Menschen sahen, denen geholfen werden musste, ganz unabhängig von der Tatsache, dass man den Holocaust unbeirrt weiter ins Werk setzte“.

Rohstock streifte die von Rainer Eisfeld dargestellten Fälle von Mitwirkung Eschenburgs an der „Arisierung“ von Unternehmen, die Juden gehörten. Und sie präsentierte eigene Recherchen aus dem Bundesarchiv Berlin. Demnach legen ihre Funde Aktivitäten Eschenburgs und seines Büros aus der Zeit nach 1939 offen, die weit und vor allem auch quantitativ über die bekannten Quellen hinausgehen. Quasi hinter der Front der Wehrmacht marschierten die „Arisierer“ wirtschaftlicher Betriebe. Mit ihnen paktierten Einrichtungen wie die, für die Eschenburg routinemäßig Auskünfte einholte, ob die ausländischen Firmen „politisch und ,rassisch‘ zuverlässig waren.“ Dass auf diese Weise jüdische Unternehmer vom Handel mit dem Deutschen Reich ausgeschlossen wurden, bezeichnet Rohstock als „kalte Arisierung“.

Solche Regelanfragen habe Theodor Eschenburg in ganz Europa gestellt. Im übrigen seien Fälle belegbar, wonach er auch von sich aus initiativ geworden sei und in diesem Sinn Druck auf seine vorgesetzte Stellen gemacht habe. Gegenstand der zeithistorischen Forschung seien diese Themen nicht. In diese Bemerkung muss man auch den Eschenburg-Biographen Udo Wengst einbeziehen, Rohstocks Doktorvater. Ihr Beitrag für die Festschrift zu seinem 65. Geburtstag war vor vier Jahren ein erster kritischer Eschenburg-Aufsatz. Wie Wengst auf ihre Publikationen reagiere, wollte Diskussionsleiter Martin Ulmer wissen. Rohstock: „Wir reden nicht mehr miteinander.“

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Erstellt:
07.06.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 41sec
zuletzt aktualisiert: 07.06.2016, 01:00 Uhr

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