Wer sich vorm Schirm lümmelt

Am Wochenende war Tag der offenen Tür im Leibniz-Institut für Wissensmedien

Leibniz in Tübingen? Ist doch etwas mit Wohnheim? Nein - sondern seit 15 Jahren auch ein Forschungsinstitut außerhalb der Universität, 130 Leute stark und auf dem Zukunftsfeld der neuen Medien unterwegs. Höchste Zeit, das mal auf einem Tag der offenen Tür darzustellen. Sonntag war er.

07.06.2016

Von Wolfgang albers

Erstaunlich gut organisiert und kontrolliert: Ein Bild von einem Wikepedia-Netzwerk. Bild: Albers

Erstaunlich gut organisiert und kontrolliert: Ein Bild von einem Wikepedia-Netzwerk. Bild: Albers

Tübingen. Macht schon was her, wenn man sich in gediegenen Räumen präsentieren kann. Jetzt ist die Edelsanierung der ehemaligen Frauenklinik abgeschlossen - und das Leibniz-Institut für Wissensmedien nutzte den prächtigen Rahmen für einen Festakt am Freitag. Seit 15 Jahren untersuchen die Leibniz-Leute, wie der Wissenstransfer durch die Neuen Medien, die im Jahr 2001 noch gar nicht so präsent waren, erfolgt und gestaltet werden kann. Am Sonntag zeigten sie auch der Öffentlichkeit mit vielen Stationen, wohin die For-schungsreise mittlerweile geht.

So interessierte sich Ulrike Crees, stellvertretende (und ab 2017 amtierende) Direktorin des Institutes für Wikipedia – ebenfalls vor 15 Jahren entstanden. Hat das elektronische Lexikon immer recht?, fragte sie in einem Kurzvortrag. Nicht immer, aber überraschend oft, findet sie: „Die Wikipedia-Gemeinschaft kontrolliert sich so gut und setzt ihre Normen so fest, dass Nicht-Wissenschaftler wissenschaftlich arbeiten können.“ Was die Wissenschaftler fasziniert: „Viele kommen zusammen, aber daraus entsteht kein Chaos, sondern eine hochgeregelte Gemeinschaft.“ Wenn es trotzdem zu Schieflagen kommen kann, dann liegt das an psychologischen Mechanismen: Die eigene Gruppe wird bevorzugt. Der Nahostkonflikt etwa wird in Israel anders beschrieben als in einem arabischen Land.

Mit Sozialen Netzwerken beschäftigt sich Sonja Utz. Sie hat für die Europäische Gemeinschaft eine Langzeit-Studie über vier Jahre angeschoben. Noch läuft sie, aber ersten Zwischenergebnissen nach gibt es keinen Grund zur Verdammung. Aber im privaten Bereich auch keine Wundereffekte: Die soziale Solidarität ist unter Nutzern oder Nicht-Nutzern ungefähr gleich. Im Bereich der Wirtschaft immerhin zeichnet sich ab, dass die, die vernetzt sind, tatsächlich profitieren.

Kai Sassenberg hat sich mit Dr. Google beschäftigt. Er kennt die Klagen von Ärzten, die von ihren Patienten erstmal eine Menge Internet-Ausdrucke auf den Tisch gelegt bekommen. Aber so ist die Realität, obwohl sie nicht jedem nützt: Ersterkrankte fühlen sich nach der Internet-Lektüre noch deutlich kränker. Chronisch Kranke hingegen finden im Internet eher einen Strohhalm, an den sie sich psychisch aufrichten.

Den Medizinern rät Kai Sassenberg, ihren Patienten zu helfen, die Ausdrucke einzuordnen: „Auch wenn das im Sieben-Minuten-Kontaktschema nicht vorgesehen ist.“ Und für Pharmakonzerne sieht er großes Potential: „Wenn sie die richtigen Strohhalme den Suchenden hinhalten.“

Wie vielfältig die Forschungsansätze sind, zeigt ein Projekt, das wissen will, ob die Reaktionen auf die Netzinhalte abhängig sind von der Körperhaltung des Users: also ob er sich vor dem Bildschirm lümmelt oder aufrecht sitzt. Auch das fällt unter das generelle Forschungsziel des Institutes: „Wir kümmern uns um Wissensprozesse unter den Bedingungen einer veränderten Umwelt“, sagt der Institutsleiter Friedrich Hesse. Das erforscht sicher der eine oder andere Uniforscher auch, aber: „Wir sind ein größerer Laden. So intensiv wie wir macht das sonst keiner.“ Was dabei herauskommt, können die Tübinger vielleicht bald (wenn der Gemeinderat Geld dafür locker macht) sehen und anfassen. Ein riesiger Bildschirmtisch soll ins Rathaus, auf dem herumgewischt und herumgedrückt werden kann wie auf einem Tablet. Dort kann man Tübinger Orte wie das Rathaus aufrufen, ein Foto ganz nah heranzoomen und Informationen zu Details wie den Porträts auf der Außenbemalung abrufen. Oder sich erklären lassen, was es mit einer nackten Frauengestalt am Rathauseck auf sich hat.

Diese Riesentische wurden schon in einem Braunschweiger Kunstmuseum ausprobiert und erlauben dort einen Blick auf Bilder und Informationen, wie sie im herkömmlichen Kunstbetrieb nicht möglich sind. Und sie berücksichtigen die neuen Wege der Information: „Ich muss nicht einfach was Vorgesetztes schlucken, sondern die Geräte lassen zu, mit den Inhalten zu arbeiten und das Maß und die Themen selbst zu bestimmen.“

Die Arbeit dahinter ist interdisziplinär: Es gilt nicht nur, die Transfer-Wege der Psyche zu ergründen, sondern auch die richtigen Inhalte zu haben – und die technischen Möglichkeiten zu kennen, sie zu präsentieren. Das ist immerhin für acht Museen, die der Leibniz-Gesellschaft verbunden sind, geschehen. Nachahmer sind willkommen.

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Erstellt:
07.06.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 00sec
zuletzt aktualisiert: 07.06.2016, 01:00 Uhr

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