Nur weil Krieg ist, hören wir nicht auf zu lachen

Am Freitag startet der Inszenierungsreigen am LTT mit Lessings „Nathan der Weise“: ein Vorab-Bericht

Dieser Klassiker hat Hochkonjunktur. Mehr als dreißig Bühnen haben „Nathan der Weise“ in der neuen Saison auf dem Spielplan. Am LTT eröffnet Oberspielleiter Christoph Roos die neue Spielzeit mit Lessings Aufklärungsstück. Premiere ist am kommenden Freitag, 30. September. LTT-Dramaturgin Kerstin Grübmeyer sprach mit Roos über die Inszenierung.

28.09.2016

Die Zeit der Toleranz ist nicht vorbei: Oberspielleiter Christoph Roos.Bild: LTT

Die Zeit der Toleranz ist nicht vorbei: Oberspielleiter Christoph Roos.Bild: LTT

Kerstin Grübmeyer: Warum ist „Nathan der Weise“ das Stück der Stunde?

Christoph Roos: Das im „Nathan“ behandelte Problem ist immer noch – oder leider wieder – sehr präsent: Wie gehen wir miteinander um? Steht mir meine Religion im Zusammenleben mit anderen, vor allem Andersgläubigen, im Weg, grenzt mein Glaube andere Menschen aus?

Das Beharren auf dem eigenen Gott als dem einzig wahren ist heute wieder stark sichtbar – man könnte auch sagen: das Beharren auf der eigenen Lebensweise. Die Tendenz in unserer Gesellschaft geht wieder dahin, auszugrenzen, zu diskriminieren, Hass zu schüren und zu sagen: „Das wollen wir hier nicht haben“.

Die Zeit der Toleranz scheint für viele vorbei zu sein, viele halten Multikulti für gescheitert und haben Angst vor der angeblichen „Überfremdung“. Lessings Stück bietet die Möglichkeit, dazu eine Gegenposition zu beziehen. Die lautet: Das friedliche Zusammenleben kann nur funktionieren, wenn es Respekt, Toleranz und menschlichen Umgang miteinander gibt.

Inszenieren Sie also „Nathan“ als Lehrstück gegen die Intoleranz?

Ja und nein. Nicht, wenn Lehrstück heißt, zu belehren oder zu erziehen. Man kommt bei „Nathan“ um den Lehrstückcharakter nicht herum. Wir versuchen, damit positiv umzugehen, es spannend zu machen. Vielleicht auch dem aktuellen Pessimismus etwas entgegen zu setzen, dem „Wir schaffen das nicht“, indem wir mit „Nathan“ zeigen, wie es eben doch gehen könnte.

Aber predigen wir am Theater nicht zu den bereits Bekehrten?

Ich bin mir nicht mehr so sicher, dass das noch stimmt. Wenn jeder fünfte AfD wählt, dann muss sich das durch viele Schichten ziehen und da sind natürlich auch Kulturinteressierte und Intellektuelle dabei. Insofern wird auch im klassischen Theaterpublikum mittlerweile der eine oder die andere mit einer ganz anderen Haltung als Lessing sitzen. Aber genau denen diese Geschichte zu erzählen und darüber zu diskutieren, was geht und was nicht geht, finde ich wirklich interessant. „Nathan“ fordert dazu auf, alles zumindest differenziert zu betrachten – und mehr noch: das Schubladendenken einzustellen. Und das hat eine Wirkung, die ich auch an mir selbst beobachte. Ich mache mir deshalb keine Sorgen, dass das im Publikum niemanden erreicht.

Dem Stück wird oft zum Vorwurf gemacht, es ebne die Konflikte ein, sei allzu „versöhnlerisch“ und daher realitätsfern. Wie arbeitet man in der Inszenierung dagegen an?

„Nathan“ ist aus einem theologischen Streit Lessings mit einflussreichen Kirchenvertretern heraus entstanden, also als Provokation. Lessing musste auf das Theater ausweichen, weil er keine theologischen Schriften mehr publizieren durfte. Das Stück hat also eigentlich einen kämpferischen Charakter, und den versuchen wir auch in den Figuren herauszuarbeiten, damit es nicht gar so „versöhnlerisch“ wird. Aber wir versuchen auch, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Lessings „Happy End“. Diese Vision eines friedlichen Zusammenlebens, die Utopie einer großen Menschenfamilie – wie können wir das heute zeigen und auch dazu Mut machen?

Wichtig war mir auch, dass Nathan, gespielt von Patrick Schnicke, nicht ein gütiger, weiser, alter Mann ist, dem das alles leicht fällt. Unser Nathan kämpft, auch mit sich selbst. Er muss unheimlich viel schlucken und springt trotzdem immer wieder über seinen Schatten.

Das Stück spielt im Krieg, genauer: im Waffenstillstand. Das vergisst man leicht, durch den heiteren, fast komödienhaften Ton der Dialoge. Wie gehen Sie mit diesem Widerspruch um?

Ich versuche, die Konflikte und Gefahren für die Figuren sichtbar zu machen und virulent zu halten. Beispielsweise droht Nathan von den Christen die Hinrichtung, weil er das Christenmädchen Recha als Jüdin bzw. eigentlich in keinem Glauben erzogen hat. Und andererseits vermittelt der heitere Grundton auch etwas sehr Lebensnahes: Nur weil Krieg ist, hören wir nicht auf zu lachen. Warum soll es nicht auch da Komik geben, wo Bürgerkrieg herrscht? Bei uns wird der Kriegszustand im Bühnenbild und in den Kostümen sichtbar. Und wir denken die Traumatisierungen der Figuren mit.

Info „Nathan der Weise“, Dramatisches Gedicht von Gotthold Ephraim Lessing: Premiere am Freitag, 30. September um 20 Uhr im LTT-Saal.)

Worum geht’s in „Nathan der Weise“?

In Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge wird Recha, die Tochter des reichen Juden Nathan, bei einem Brand von einem jungen Tempelherrn gerettet. Ein christlicher Kreuzritter, der mitten im Krieg ein Judenmädchen rettet? Aber auch der Tempelherr selbst verdankt sein Leben einem wundergleichen Ereignis: dem Gnadenakt des Sultans Saladin. Der Tempelherr scheint seine Tat allerdings schon zu bereuen. Harsch weist er alle Annäherungsversuche Rechas ab, die für ihren Retter schwärmt. Zur selben Zeit versucht der Sultan, Nathan eine Falle zu stellen, um mit dem Geld des reichen Juden seine Kriegskasse aufzufüllen. Nathan soll dem muslimischen Herrscher sagen, welche der drei Weltreligionen die wahre sei. Die christliche, die jüdische oder die muslimische?

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Erstellt:
28.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec
zuletzt aktualisiert: 28.09.2016, 01:00 Uhr

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