Narrative aus dem braunen Bodensatz

Alexandra Senfft streift in ihrem neuen Buch auch Tübinger NS-Familiengeschichten

Einige Jahre nach dem frühen Tod ihrer Mutter hat Alexandra Senfft entschieden, genauer hinsehen zu wollen. Mehr noch: Sie wollte alles sehen. Nachdem sie die in der Familie antrainierte Scheu vor den langen Schatten der Vergangenheit überwunden hatte, begann sie in den hinterlassenen Briefen ihrer Mutter zu lesen. Und sie lernte, dem Leugnen und Schweigen auf die Spur zu kommen, das der Grund für die letztlich todbringende Verzweiflung ihrer Mutter gewesen war.

28.06.2016

Alexandra Senfft Bild: Passow

Alexandra Senfft Bild: Passow

Tübingen. Manche Facetten der Geschichte dieser Familie hat man in Tübingen schon gehört, gesehen, gelesen. Erika Senfft, die Mutter der Autorin, ist eine geborene Ludin, 1933 in Stuttgart auf die Welt gekommen und Tochter von Hanns Ludin, der von 1941 bis 1945 Großdeutschland als Gesandter in der Slowakei repräsentierte. Politisch-diplomatisch verantwortlich für den Tod von nahezu 70 000 slowakischen Juden, wurde er am 9. Dezember 1947 in Bratislava zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Für seine Familie rückte Tübingen einige Nachkriegsjahre lang in den Mittelpunkt. Erla, Witwe Ludins, zog am fünften Jahrestag seiner Hinrichtung mit ihren sechs Kindern in ein Häuschen am Neckar, das ihr Hans Gmelin vermittelt hatte, der nachmalige Tübinger Oberbürgermeister und Ehrenbürger. Gmelin war aus gemeinsam verbrachter Zeit in der SA mit Hanns Ludin eng befreundet gewesen und in der slowakischen Gesandtschaft der Zweite Mann. Die Gmelins blieben mit den Ludins verbunden, in gewisser Hinsicht auch Gerhard Kreuzwendedich Todenhöfer, im Auswärtigen Amt erfahren in „Judenangelegenheiten“.

Die handelnden Personen dieses vaterlosen Familienclans kennen die Tübinger, wenn nicht durch eigene Zeitzeugenschaft, dann durch die Brille Malte Ludins, Alexandra Senffts Onkel. Er hat in seinem vor elf Jahren im „Arsenal“ gezeigten Dokumentarfilm „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ den ignorierenden Umgang der Ludins mit der NS-Vergangenheit vorgeführt.

Alexandra Senfft, Tochter von Maltes Schwester Erika, setzte neue Akzente. Zunächst dadurch, dass sie in ihrem 2007 publizierten Erstlingswerk „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte“ den Kosmos ihrer Mutter sezierte, die ebenso verzweifelt wie vergeblich die Wahrheit über Hanns Ludin erfahren wollte. Da ihre wütenden Briefe an ihre Mutter erhalten sind, konnte Alexandra Senfft präzise das psychische Leiden ihrer eigenen Mutter rekonstruieren, das im ausschweifenden Leben der Hamburger Schickeria Kompensation, jedoch keinen Halt fand.

Es ist nicht nur die Erfahrung von Alexandra Senfft, dass sie die Geschichte nicht loslässt. Die Hamburger Publizistin, die nach dem Studium der Islamwissenschaft auch auf vielerlei Feldern des palästinensisch-israelischen Spannungsverhältnisses arbeitete, kam durch ihre Familienbiographie in Kontakt mit anderen Nachgeborenen, die auf ähnliche Weise im braunen Bodensatz der Altvorderen stocherten. Mit einigen von ihnen trat Senfft in einen Dialog, der sie auf ein Neues in die „langen Schatten der Täter“ führte, was auch den Titel für das daraus hervorgegangene Buch gab.

Ein Kapitel handelt von der Geschichte Wolfgang Wagners und seiner Familie aus Tübingen. Mit ihm zusammen fuhr die 55-Jährige erstmals seit ihren Oma-Besuchen in Kindertagen wieder in die Unistadt. Sie erkundeten die verschränkten Familiengeschichten der Wagners und der Ludins, standen vor dem Haus der Ludin-Witwe („heute ein Bordell“) und dem der Wagners.

Man kann, wenn man dieses Kapitel liest, dem Tübinger Voyeurismus huldigen und interessante Querverbindungen erfahren, tatsächlich geht es in dem Buch aber um mehr als solchen Nebenschauplätzen. Wolfgang Wagner ist ein viel gelesener kritischer Sozialwissenschaftler („Uni-Angst und Uni-Bluff“, „Tatort Universität“), der mit seiner Familienvergangenheit umgehen kann. Es gibt indes andere, die an ihren Familiengeschichten immer noch leiden. Mit ihnen hat sich die Autorin in Wohnzimmern und Cafés an vielen anderen Orten getroffen und Familien-Narrative studiert – die letztlich nur durch konsequente Recherchen gebrochen und abgelöst werden können. Hans-Joachim Lang

Info: Alexandra Senfft liest aus „Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte“ am Donnerstag, 30. Juni, um 19 Uhr in der Buchhandlung Osiander (Wilhelmstraße 12).

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Erstellt:
28.06.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 45sec
zuletzt aktualisiert: 28.06.2016, 01:00 Uhr

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