Knapp am Herzen vorbei · Drei Jahre Haft für Messerattacke

29-Jähriger überlebt Messerattacke am Tübinger Bahnhof nur knapp · Täter muss drei Jahre in Haft

Sein Plädoyer begann der Staatsanwalt am gestrigen Mittag mit den Worten: „Was für ein Prozess!“ Auf drei Tage war die Verhandlung vor dem Schöffengericht am Tübinger Amtsgericht angesetzt, zehn Zeugen waren geladen. Das Urteil fiel allerdings schon nach gut dreineinhalb Stunden – da hatte nur das Opfer als Zeuge ausgesagt.

18.10.2017

Von Moritz Hagemann

Symbolbild: liveostockimages - Fotolia

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An einem Sonntag im Mai war es zwischen einem 43-jährigen Griechen und einem 29-jährigen Deutschen in der Unterführung zwischen Anlagenpark und Tübinger Bahnhof zu einer Auseinandersetzung gekommen. Dabei hatte der ältere Mann seinem Widersacher nach einem mehrere Tage andauernden Streit gegen 16.15 Uhr ein Messer in die Brust gerammt.

Tatwaffe fehlt noch immer

Das Opfer hatte großes Glück: 5 Zentimeter tief und 1,5 Zentimeter breit hatte sich die 10-Zentimeter-Klinge in die Brust gebohrt – nur einen halben Zentimeter am Herzen vorbei. „Es ist großes Glück, dass wir nicht von Mord sprechen“, sagte Richterin Sabine Altemeier. So lautete der Tatvorwurf: gefährliche Körperverletzung. Ein versuchtes Tötungsdelikt war es rechtlich nicht, weil der Täter nach einem Stich vom Opfer abließ und der Geschädigte sich bei der Bundespolizei am Bahnhof selbst einen Krankenwagen besorgen konnte. Die Tatwaffe fehlt noch immer, er habe sie „irgendjemand gegeben“, sagte der Angeklagte.

Die Beteiligten kennen sich aus der Szene, die täglich vor dem Supermarkt am Europaplatz verkehrt. Beide sind arbeitslos und waren zum Tatzeitpunkt stark alkoholisiert. Der Streit begann schon einige Tage vorher, als sich das spätere Opfer in einen Streit des Angeklagten mit dessen Freundin einmischte. „Ich glaube, er war eifersüchtig“, sagte der spätere Täter. Die Situation eskalierte, als der 29-Jährige mit Worten und einer „Halsabschneider-Geste“ in der Bahnhofsunterführung provozierte.

So begann auch die Verhandlung am Tübinger Amtsgericht: Da hatte der Geschädigte wegen seiner Provokationen ein schlechtes Gewissen und räumte ein: „Ich hab’ auch Schuld an dem, was passiert ist.“ Deshalb hatte er bei der Polizei den 43-Jährigen zwar beschrieben, aber nach dessen Verhaftung nicht identifiziert – obwohl er ihn genau erkannt hatte. Nachdem der Geschädigte vor Gericht aber revidierte und sagte, der Angeklagte sei zweifelsfrei der Täter, nahm der Prozess eine rasche Wendung.

Der Angeklagte, der zur Sache zunächst keine Angaben machen wollte, legte schnell ein Geständnis ab. Und entschuldigte sich für seine Tat. Selbst das Opfer entschuldigte sich beim Täter für die vorangegangenen Provokationen: „Ich verzeihe dir! Wenn ich Alkohol trinke, bin ich schwierig, wir haben ein Alkoholproblem“, räumte der Geschädigte ein, der sich deshalb bereits in Behandlung befindet. Der Täter, der nur gebrochen Deutsch spricht, hatte neben sechs, sieben Bier nach eigenen Angaben zuvor zwei Joints geraucht und – in Absprache mit seinem Arzt – Methadon zu sich genommen.

15 bis 20 Bier am Tattag

Der Geschädigte gab an, am Tattag 15 bis 20 Bier getrunken zu haben. Das sei normal gewesen, ein Alkoholtest ergab bei ihm 2,08 Promille. Der Messerstich habe bei ihm auch keine Schmerzen ausgelöst. Nachdem die Wunde genäht war, verließ er das Krankenhaus auf eigenen Wunsch auch direkt wieder. Innere Verletzungen hatte er nicht. Da hatte die Polizei den Täter am Bahnhof bereits kontrolliert, aber nochmals auf freien Fuß gelassen. Drei Tage nach der Tat kam der 43-Jährige in Untersuchungshaft, dort begann er eigenständig mit dem Entzug. Der Täter war 2003 mit seiner Familie aus Griechenland gekommen und wohnte in einem kleinen Tübinger Ortsteil. Er gab auch zu, früher Kokain und Heroin genommen zu haben. Doch sein Arzt und auch der Geschädigte beschrieben ihn als ruhigen, eigentlich angenehmen Zeitgenossen. Dass er unter einer depressiven Erkrankung litt, verneinte der psychiatrische Gutachter Dr. Stephan Bork. Viel mehr sei dies eine Folge der Suchtkrankheit gewesen.

Dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt unter Einfluss verschiedener Betäubungsmittel stand, machte ihn vermindert schuldfähig. Der Geschädigte selbst sagte, dass der Täter schon beim Versuch ihn zu schlagen mehrmals das Gleichgewicht verloren habe und auf den Boden gefallen sei. Dennoch folgte das Urteil dem Antrag des Staatsanwaltes auf eine dreijährige Haftstrafe – die Verteidigung forderte zwei Jahre und sechs Monate. „Er musste damit rechnen, dass dieser Angriff tödlich ist“, begründete die Richterin. Und wandte sich direkt an den Täter: „Unser aller Ziel muss sein, dass Sie von den Betäubungsmitteln wegkommen, aber Sie sollen auch spüren, was Sie getan haben.“ Der 43-Jährige, der wegen zweier Drogenvergehen und Beleidigung vorbestraft war, plant bereits eine Therapie.

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Erstellt:
18.10.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 07sec
zuletzt aktualisiert: 18.10.2017, 01:00 Uhr

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