Ergenzinger Dealer kam mit drei Jahren Haft davon

22-Jähriger, der einen Polizisten überfuhr, wurde nur wegen Drogenhandels verurteilt

Nachdem der Mordvorwurf vom Tisch war, ging der Prozess gegen einen Ergenzinger Marihuana-Dealer vor dem Tübinger Landgericht gestern überraschend schnell zu Ende. Er wurde wie ein Komplize zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt.

17.12.2015

Von Fred Keicher

Symbolbild Gericht Amtsgericht Landgericht

Symbolbild Gericht Amtsgericht Landgericht

Ergenzingen. Der 22-Jährige war am Abend des 11. März 2015 mit seinem Auto in der Stuttgarter Hauptstätter Straße von einem Mobilen Einsatzkommando der Polizei gestoppt worden. Beim Versuch, zu fliehen, überfuhr er einen Polizisten und verletzte ihn schwer. In einem ersten Prozess wurde er vor dem Tübinger Landgericht wegen Mordversuchs angeklagt. Die Staatsanwaltschaft ließ diesen Vorwurf im zweiten Prozess fallen, weil ein Sachverständiger festgestellt hatte, dass der Angeklagte nicht notwendig von einer Polizeikontrolle ausgehem musste. Er hatte ausgesagt, dass er das schwer bewaffnete, mit Sturmhauben vermummte Einsatzkommando für eine rivalisierende Drogenbande gehalten und Angst bekommen habe.

Nachdem der Mordvorwurf vom Tisch war, ging es gestern nur noch um den Vorwurf des gewerbsmäßigen Handels mit Marihuana. Zwei Beamte des Reutlinger Rauschgift-Dezernats sagten gestern als Zeugen aus, dass die Kripo schon in November 2014 einen Hinweis auf die Aktivitäten der Ergenzinger Dealer-WG erhalten habe. Als die drei jungen Männer im Januar 2015 kiloweise in den Handel einstiegen, wurden ihre Handys bereits überwacht.

Sie hätten sich für die Beobachtung lange Zeit gelassen, kritisierte Verteidiger Thilo Bohr. Weil sie von den Beschaffungsfahrten immer erst einen Tag später erfuhren, verteidigte sich einer. Nur von der Fahrt am 11. März, an dem die Festnahme stattfand, habe die Polizei einen Tag vorher erfahren.

Ein Finanzermittler konnte nicht feststellen, dass auf den Konten der drei große Reichtümer angehäuft wurden. Der Vorsitzende Richter Ulrich Polachowski überschlug den Gewinn und kam auf etwa 10000 Euro in drei Monaten: „So viel kann ich in der kurzen Zeit nicht zurücklegen. Unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten haben Sie alles richtig gemacht“, gratulierte er dem Angeklagten ironisch.

Eine schwere Persönlichkeitsstörung konnte der psychiatrische Sachverständige Peter Winckler nicht feststellen. Der Angeklagte sei voll einsichtsfähig. Abhängigkeit von Cannabis sah er nicht, eher das, was er „gefährlichen Gebrauch“ nannte. Durch die Festnahme sei dessen „Immunität gegen Drogen“ gewachsen. Die vom Angeklagten gewünschte Drogentherapie in einer Klinik beurteilte er eher skeptisch, da er dort ständig mit schwer Drogenabhängigen in Kontakt komme. Der Angeklagte erlaubte sich den Hinweis: „In der Haft sind unheimlich viele mit Drogen unterwegs.“ Aber, so der Vorsitzende Richter, „im Knast haben Sie wenigstens noch den ganz normalen Schläger“.

Urteil in der Mitte, gleiche Strafe wie Komplize

Staatsanwalt Nicolaus Wegele betonte die relativ große Menge Marihuana und den professionellen Handel. Er forderte drei Jahre und acht Monate Haft. Verteidiger Bohr hob die lange Untersuchungshaft und „die größere Strafempfindlichkeit“ des Angeklagten hervor, ausgelöst durch den Vorwurf des versuchten Mordes. Sein Strafantrag lautete auf zwei Jahre und neun Monate. Unter Anrechnung der neunmonatigen Untersuchungshaft könnte der Angeklagte bereits im Januar eine Drogentherapie starten.

Das Gericht hielt sich mit dem Strafmaß in der Mitte und verurteilte den Angeklagten zu drei Jahren und drei Monaten Haft. Zur selben Strafe war schon der Komplize vom Amtsgericht Tübingen wegen derselben Tatvorwürfe verurteilt worden. „Wir halten es für ungerecht, wenn zwei, die immer zusammenhingen, unterschiedlich behandelt werden. Sie haben eine kurze, aber heftige Dealer-Karriere hinter sich. Das ist nichts, worauf Sie stolz sein können“ sagte der Vorsitzende Richter.

Er habe viele Menschen gesehen, begründete Richter Polachowski das Urteil, die durch den Genuss von Cannabis in die Schizophrenie geschlittert seien. „Wenn man bei Erwerb von Cannabis den Bereich der geringen Menge überschreitet, ist das ein Verbrechen. Man muss in Deutschland schon eine ganze Menge machen, um ein Verbrechen zu begehen“, sagte Polachowski.

Positiv wertete der Richter das Geständnis des Angeklagten, seine Kooperation mit der Polizei. Auch dass er Reue wegen des überfahrenen Polizisten gezeigt und ihm bereits Schmerzensgeld bezahlt habe, sei anerkennenswert. Außerdem habe er sich zum Schadensersatz verpflichtet. Auch dass der Angeklagte therapiebereit ist, wertete der Richter positiv. „Sie sind jung. Ich hoffe, dass Sie auf diesem Gebiet erwachsen geworden sind.“ Der Angeklagte habe die Kosten des Verfahrens zu tragen, mit Ausnahme der Kosten des Kfz-Sachverständigen, dessen Gutachten zur Einstellung des Verfahrens wegen versuchten Mordes geführt habe.

Von moralischer Schuld mochte der Richter den Angeklagten nicht freisprechen: „Sie haben einen Grund gesetzt, und anschließend waren drei Personen schwerverletzt.“ Eine Polizist lag schwerstverletzt unterm Auto, der Angeklagte und sein Mittäter saßen mit Schussverletzungen im Auto.

In seinem Schlußwort bekräftigte der Angeklagte, seinen Wunsch sein Leben in Griff zu bekommen. „Ich will die Therapie machen, danach wieder zur Schule gehen und dann Abitur machen.“

Prozess zeigt Schwachstellen bei MEK-Einsätzen

Für die Polizei hat dieser Prozess möglicherweise Folgen. Die Vorgehensweise der MEKs bei der Festnahme von Straftätern birgt große Risiken, wie bei der Verhandlung herauskam. Im vorliegenden Fall wurde ein Polizist beinahe getötet. Der Täter konnte jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil die Polizei nicht als solche zu erkennen war – das ergab die hartnäckige Recherche des Verteidigers Thilo Bohr. Mit großer Geduld fragte er nach den Einsatzregeln bei dem fatalen Zugriff am 11. März in Stuttgart. Dabei kam heraus: Sturmhauben oder Jacken mit dem Schriftzug „Polizei“ kamen nicht zum Einsatz. Und der Reutlinger Kfz-Sachverständige Matthias Fischer fand heraus, dass selbst laute Rufe wie „Halt! Polizei! Keine Bewegung!“ im Innern eines Pkw nicht zu hören sind.

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Erstellt:
17.12.2015, 20:30 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 48sec
zuletzt aktualisiert: 17.12.2015, 20:30 Uhr

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