Nach dem Abitur kam für Lennard keine Primetime

19-jähriger Tübinger leidet unter chronischer Erkrankung an chemischen Schadstoffen

Sie kamen alle in ihren frisch bedruckten T-Shirts zur schriftlichen Abitursprüfung – und lösten damit bei ihrem Mitschüler massive gesundheitliche Beschwerden aus. Lennard leidet an der chronischen Krankheit MCS (Multiple Chemikalien- Sensivität). Die Suche nach den Ursachen war langwierig.

20.08.2016

Von Christiane Hoyer

Draußen in der Platanenallee oder im Biergarten kann sich Lennard ohne körperliche Beschwerden treffen, nicht aber in geschlossenen Räumen. Bild: Sommer

Draußen in der Platanenallee oder im Biergarten kann sich Lennard ohne körperliche Beschwerden treffen, nicht aber in geschlossenen Räumen. Bild: Sommer

Tübingen. Zum Gespräch trifft sich der 19-Jährige am liebsten draußen. Denn Büroräume stecken voller Materialien, auf die er mit Kopfschmerzen, Müdigkeit bis hin zur Erschöpfung reagiert. In der Platanenallee finden wir einen Platz zum Reden, wo die für ihn belastenden Schadstoffe eine untergeordnete Rolle spielen. Lennard lebt in Tübingen, er möchte bewusst nur seinen Vornamen in der Zeitung stehen haben.

Erste Anzeichen für seine Krankheit gab es im Herbst 2014. Lennard hatte Fahrstunden – in einem neuen Auto. „Das war irgendwie merkwürdig“, schildert er seine Reaktion auf den Wagen. „An der Ampel fielen mir die Augen zu, und ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren, obwohl mir das bis dahin nie schwergefallen ist“. Die ständige Müdigkeit und Erschöpfung erklärte sich der Abiturient später, Anfang 2015, mit dem Schulstress und damit, dass er sich vier Weisheitszähne ziehen ließ, eine Entzündung bekam und Antibiotika einnehmen musste.

Extrem reagierte Lennard auf die Lektürehilfen fürs Abitur. Schon kurz nach den ersten Zeilen in den Hochglanzdruck-Broschüren verfiel der Abiturient in einen Dämmerzustand, wusste nicht mehr, was er vorher gelesen hatte. Lennard schob es auf die Anspannung vor dem schriftlichen Abi. Doch dann bekam er das druckfrische Abi-T-Shirt, es durfte zwei Wochen lang wegen des Aufdrucks nicht gewaschen werden. Wie bei den anderen lagen die Abi-Klamotten bei ihm erst mal im Zimmer herum. „Schon abends bekam ich Kopfschmerzen“, erinnert er sich, „und die nächsten zwei Tage war ich mental leicht weggetreten – als ob ich eine Grippe hätte“, schildert er die Reaktion auf die Kleidung.

„Abi 2015 – jetzt kommt die Primetime“ war da in Schwarz-Weiß-Buchstaben auf die roten Pullis gedruckt, in Erwartung auf die „beste Zeit“ nach den Prüfungen. Und alle – bis auf Lennard – hatten die Abiklamotten an, als sie zum ersten Klausurtag am 13. April anrückten. Schon im Vorraum, sagt Lennard, „war ich ich nicht sonderlich wach“. Dann begann das schriftliche Deutsch-Abitur. Lennard wählte den Textvergleich von Dantons Tod mit Homo Faber. Nach drei Stunden ging gar nichts mehr: Schwindel, lähmenden Kopfschmerzen, null Konzentration. Lennard musste die Prüfung abbrechen.

Seither spielt sich seine Primetime, bei Ärzten und zuhause ab. Der Hausarzt verwies ihn an die Allergologen in der Hautklinik, die wiederum verwiesen ihn in die psychosomatische Abteilung, ohne auch nur einen Allergietest gemacht zu haben. Schließlich landete Lennard in der Umweltambulanz Freiburg. Die Ärztin dort machte ein Blutbild, horchte ihn ab und stellte fest: „Eine organische Ursache wird ausgeschlossen, eine Psychotherapie empfohlen“.

Der Spezialist Kurt E. Müller bezeichnet dies als die „Psychiatrisierung“ der chronischen Krankheit MCS in der Medizin und kritisiert, dass Krankheitszusammenhänge nicht erforscht würden. Der Umweltmediziner aus Kempten hat gemeinsam mit Kollegen herausgefunden: MCS, die multiple Chemikalienunverträglichkeit, zählt inzwischen ebenso zu den klassischen Volkskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck. In Deutschland leiden laut Müller schätzungsweise vier bis sechs Millionen Menschen darunter, 500 000 von ihnen in einer schweren Form, das heißt die Erkrankten können kaum noch vor die Türe gehen. MCS, so Müller in einem Interview mit der Redaktion von „Planet wissen“, sei eine „anerkannte Diagnose“, es handele sich dabei aber nachweislich nicht um eine Allergie. MCS-Patienten reagieren extrem auf Schadstoffe, die zum Beispiel in Dämm-Material fürs Haus verwendet werden. Auch Weichmacher in PVC-Materialien wie Plastiktüten, Körperpflegemitteln, Duftstoffe in Kosmetika, Spül- und Waschmitteln lösen körperliche Abwehrreaktionen aus. Je heftiger jemand erkrankt, umso größer ist die Zahl der Stoffe, auf die der Körper einen Entzündungsmechanismus entwickelt“, sagt Müller.

Die Adresse des Umweltmediziners Müller bekamen Lennard und seine Mutter über die Stuttgarter Kontaktstelle „KISS“ der MCS-Selbsthilfegruppe vermittelt. Zweimal fuhr er zur Untersuchung nach Kempten. Im Blut fand der Arzt extrem hohe Cholesterin- und Blutfettwerte – für Lennards Alter und seine schlanke Statur völlig untypisch. Für seine Beeinträchtigung im Alltag aber entscheidend sind Botenstoffe und Hormone, die an Entzündungs- und Stressreaktionen beteiligt sind. Tests ergaben außerdem, dass er eine leichte Form von Borreliose (nach Zeckenstich) hat. Dies und seine Erkrankung am Pfeifferschen Drüsenfieber einige Monate vor dem Abitur könnten zum Ausbruch der Krankheit MCS beigetragen haben.

Und jetzt? Die Diagnose selber bringt Lennard zwar Gewissheit. Aber an seinem eingeschränkten Alltagsleben ändert es nichts. Alle Geschäfte, Restaurants und fremde Wohnungen meidet er. Ebenso Duftstoffe, Laminat- und Parkettböden, Laserdrucker – alle weichen Kunststoffe. Sämtliche Bücher hat Lennard längst aus seinem Zimmer verbannt, auch Reisetaschen und den Laptop, die Abiklamotten stecken sowieso im Keller. Und wenn ein Brief mit der Post kommt, muss sich Lennard ihn erst in Folien verpacken, bevor er ihn öffnet oder sich ihn vorlesen lassen – „sonst zerlegt‘s mich“. Auch Sport ist für Lennard anstrengend. Er hat Schmerzen in den Gelenken und ist schon nach einer kurzen Joggingrunde sehr erschöpft. Lennard klagt nicht über diese „Einschnitte im Alltag“. Aber er ist Realist genug, um festzustellen: „Es ist schwer, Kontakte aufrecht zu erhalten“.

Dabei probiert er immer wieder, was sein Körper verträgt und wo er an Grenzen kommt. Mit Freunden ging er nach dem Abitur zelten. Die Abi-Prüfungen holte er nach – am offenen Fenster und in einem Schulnebengebäude, das nicht frisch renoviert war. Im vergangenen Winter verbrachte er mehrere Wochen auf einem Bauernhof im Elsass. Vor allem die Arbeit draußen an der frischen Luft bekam ihm gut. Holz schlagen, aber auch Stall ausmisten machte er gerne und zirka sechs Stunden am Tag. Der durch die Küche ziehende Rauch vom Brotbackofen jedoch oder der Diesel des Traktors waren für ihn so schlimm, dass er das Weite suchen musste. Mit der Renovierung des Hofes musste Lennard den Ort verlassen.

Über die Organisation WWOOF (World Wide Opportunities on Organic Farms) bemühte er sich um einen Praktikumsplatz auf einer Ökofarm. Doch „für fremde Leute ist es oft schwierig, mich aufzunehmen, weil sie nicht genau wissen, was meine Krankheit bedeutet“, sagt Lennard. Jetzt hat er über persönliche Kontakte die Möglichkeit, auf der nordgriechischen Insel Thasos zu wohnen und zu arbeiten. In einem Steinhaus ohne moderne Dämm-Materialien. Während viele seiner Freunde jetzt mit dem Studium beginnen, freut sich Lennard auf den Tapetenwechsel auf der Mittelmeer-Insel. „Diese Aussicht ist gut“, sagt er. „Gut, mal rauszukommen“.

Info: MCS – Selbsthilfegruppe für Umweltchemikalienkranke „KISS“ Stuttgart, Telefon: 0 711/ 640 6117; info@kiss-stuttgart.de